Berlin. Er war der Wegbereiter der Einheit und der wohl einzige Freund von Willy Brandt: Egon Bahr ist im Alter von 93 Jahren gestorben.

Die größte Auszeichnung seines Lebens, so hat es Egon Bahr einmal erzählt, sei ein einziges Wort von Willy Brandt gewesen. „Wer waren Deine Freunde?“, war Brandt auf dem Sterbebett von seinem Sohn Lars gefragt worden. Brandt sagte nur: „Egon“. Das sei „der höchste Orden, den ich je bekommen habe“, meinte Bahr später. Er war der engste Vertraute Brandts, der Stratege hinter dem charismatischen Kanzler – in ihrer ungewöhnlichen politischen Lebensgemeinschaft war der eine ohne den anderen nicht denkbar. Zusammen konzipierten sie die westdeutsche Ostpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre, die den Weg zur deutschen Einheit bereitete. Am Mittwoch ist Bahr mit 93 Jahren in Berlin gestorben, an den Folgen eines Herzinfarkts, seine zweite Frau Adelheid war bei ihm.

In den ersten Nachrufen gestern wurde er als großer Sozialdemokrat und Friedenspolitiker gewürdigt. Politisch aktiv war Bahr bis zuletzt: Mehrmals in der Woche fuhr er noch in sein Büro im vierten Stock der SPD-Zentrale in Berlin, diskutierte mit führenden Genossen, hielt Vorträge oder referierte im Parteivorstand über Entspannungspolitik. Erst im Juli war Bahr noch in Moskau, warb mit Michael Gorbatschow für einen neuen Anlauf in den deutsch-russischen Beziehungen. Vor einiger Zeit führte der Alt-Genosse für die SPD-Spitze vertrauliche Gespräche mit dem Linkspartei-Senior Hans Modrow über eine Annäherung beider Parteien. Aber seine große Zeit lag da schon Jahrzehnte zurück.

Die Formel „Wandel durch Annäherung“ stammt bereits aus dem Jahr 1963

Geboren wurde Bahr 1922 im thüringischen Treffurt. Nach Abitur und einer Ausbildung zum Industriekaufmann in Berlin wurde er 1942 Soldat, zwei Jahre später folgte die Zwangsversetzung in die Rüstungsproduktion – denn er hatte bis zu diesem Zeitpunkt seine jüdische Großmutter verheimlicht.

Nach dem Krieg machte Bahr schnell Karriere als Journalist, zehn Jahre lang war er Chefkommentator des Senders Rias. Früh sympathisierte er mit der SPD, lernte den damaligen Berliner Landeschef Willy Brandt kennen, gegen dessen Rat er 1956 in die SPD eintrat. Vier Jahre später berief ihn Brandt, inzwischen Regierender Bürgermeister Berlins, zum Chef seines Presseamtes. Das war der Beginn einer lebenslangen engen Zusammenarbeit. Brandt entwarf Visionen, Bahr konzipierte, formulierte und testete für seinen Chef politische Reaktionen. Zur entscheidenden Wegmarke wurde eine Rede an der Evangelischen Akademie Tutzing 1963, in der Bahr für das künftige Verhältnis zur DDR die Formel „Wandel durch Annäherung“ prägte. Das Konzept setzte Bahr um, als Brandt 1966 Außenminister wurde und seinen Vertrauten dort zum Planungschef machte. Mit dem Wechsel ins Kanzleramt 1969 wurde Bahr Unterhändler für die entscheidenden Verhandlungen mit Moskau, Ost-Berlin und Warschau. 1972 belohnte ihn Brandt für die Ost-Verträge mit dem Titel eines Bundesministers für besondere Aufgaben.

Egon Bahr: Szenen seines Lebens

973 in Ost-Berlin: Der damalige
973 in Ost-Berlin: Der damalige © dpa | Knoke
1977 in Hamburg: SPD-Bundes-Geschäftsführer Egon Bahr (l.) und der SPD-Vorsitzende Willy Brandt beim Bundesparteitag der Sozialdemokraten
1977 in Hamburg: SPD-Bundes-Geschäftsführer Egon Bahr (l.) und der SPD-Vorsitzende Willy Brandt beim Bundesparteitag der Sozialdemokraten © dpa | Werner Baum
981 in Ost-Berlin: Erich Honecker, Vorsitzender des Staatsrates der DDR (r.), und SPD-Rüstungsexperte Egon Bahr sprechen über Abrüstung und Sicherheit
981 in Ost-Berlin: Erich Honecker, Vorsitzender des Staatsrates der DDR (r.), und SPD-Rüstungsexperte Egon Bahr sprechen über Abrüstung und Sicherheit © dpa | DB ADN
1982 in München: Helmut Schmidt (l.) und Egon Bahr beim SPD-Parteitag. Unter Schmidt wurde Bahr 1974 Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
1982 in München: Helmut Schmidt (l.) und Egon Bahr beim SPD-Parteitag. Unter Schmidt wurde Bahr 1974 Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit © dpa | Istvan Bajzat
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Seine teils geheimen Missionen waren immer wieder Gegenstand von Spekulationen: „Tricky Egon“ pflegte einen verdeckten, offiziösen Kanal nach Moskau, den er später an Kanzler Helmut Kohl übergab. Bahr verstand Politik als eine Mischung aus Kunst und Psychologie, meisterhaft filterte er bei seinem Gegenüber gemeinsame Interessen heraus. Das Vertrauensverhältnis zu Brandt wuchs indes langsam, bei aller Freundschaft blieb Distanz: „Man konnte Brandt nur nahekommen, wenn man ihm nicht zu sehr nahekam“, sagte der SPD-Politiker.

Der Rücktritt des Kanzlers 1974 wegen der Guillaume-Affäre erschütterte den Vertrauten, bis in die letzten Lebensjahre beschäftigte ihn der jähe Sturz, den er für ungerechtfertigt hielt. Berühmt wurde die Szene aus der Sitzung der SPD-Fraktion, in der Bahr einen Weinkrampf erlitt – er empfand es als unerträgliche Heuchelei, wie SPD-Fraktionschef Herbert Wehner seinem Rivalen nach der Demissions-Ankündigung zurief: „Willy, du weißt, wir alle lieben dich“. Ein „Verräter“ sei Wehner gewesen, klagte Bahr später, die deutsche Einheit habe er nie gewollt. So hart er selbst urteilte, so kritisch äußerten sich auch seine Gegner: Bahr galt ihnen als überheblich, unnahbar und jähzornig.

Zehn Jahre lang Direktor des Instituts für Friedensforschung in Hamburg

Der SPD-Politiker blieb nach Brandts Rücktritt noch zwei Jahre als Entwicklungsminister im Kabinett, wurde dann SPD-Bundesgeschäftsführer und war von 1984 bis 1994 Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Uni Hamburg (IFSH). „Als Realist mit dem Ziel einer friedlichen Welt mahnte er, machtvergessen aber auch nicht machtversessen zu sein, den Dialog zu suchen, ohne blind für Interessen zu sein“, hieß es dort nach seinem Tod. Für die wissenschaftliche Arbeit des IFSH blieben diese Ziele und Mahnungen Bahrs auch in Zukunft prägend.

Bis zuletzt beschäftigte ihn die Außenpolitik. Er warb für mehr Selbstbewusstsein gegenüber den USA und noch in diesem Sommer für eine Verständigung mit Russland. Sorgenvoll verfolgte er den Vertrauensverlust der Politik und beklagte fehlende Leidenschaft für Europa. „Wir Menschen vergessen gerne, dass der Frieden keine Selbstverständlichkeit ist“, mahnte Bahr. „Es kann schnell alles verloren gehen.“

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Bundespräsident Joachim Gauck würdigte Bahr als „bedeutenden politischen Akteur der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betonte, Bahr habe sich als Politiker, Journalist und Wissenschaftler über Parteigrenzen hinweg gleichermaßen große Anerkennung und Wertschätzung erworben. „Den Menschen bleibt er als ein seine Zeit prägender Politiker in Erinnerung, der sich der Sache und der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlte“, sagte Merkel.

Der frühere sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow lobte Bahr als Außenpolitiker mit Vision. „Er schuf die Grundlagen für jene Atmosphäre des gegenseitigen Verständnisses, in dem später das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Wiedervereinigung möglich wurden“, hieß es in einer von der Gorbatschow-Stiftung veröffentlichten Mitteilung. Bahr hatte sich noch kürzlich in Moskau gemeinsam mit Gorbatschow für ein Ende der Entfremdung zwischen Deutschland und Russland ausgesprochen.

SPD-Altkanzler Helmut Schmidt sagte: „Egon Bahr wird der deutschen Außenpolitik fehlen. Und mir persönlich auch.“ Schmidt hob hervor, dass Bahr sich auch in der Ukraine-Krise bis zuletzt um die Beziehungen zu Russland bemüht habe.

SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte, der große Vordenker und Friedenspolitiker Bahr sei stets ein loyaler und unermüdlicher Ratgeber der Partei gewesen. Regelmäßig arbeitete Bahr noch in seinem Büro im Berliner Willy-Brandt-Haus. „Wir werden seine analytische Brillanz, seine Rationalität und Leidenschaft, aber auch sein Temperament und seinen liebenswürdigen Humor sehr vermissen“, betonte Gabriel. „Ich werde Egon auch als Freund und Ratgeber sehr vermissen.“

„Mit Egon Bahr geht ein großer deutscher Politiker“

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bezeichnete Bahr als Vorbild. Nur wenigen Politikern sei es vergönnt, mit einer Idee die Welt zu verändern und noch zu erleben, wie sie Wirklichkeit werde: „Bei Egon Bahr war es so – seine Vorstellungen von einer radikal neuen Ostpolitik und vom ,Wandel durch Annäherung‘ haben buchstäblich den Lauf der Geschichte verändert und die deutsche und europäische Einigung erst möglich gemacht.“

Linksfraktionschef Gregor Gysi erklärte: „Mit Egon Bahr geht ein großer deutscher Politiker. Schon seit 1990 suchte er auch das Gespräch mit meiner Partei, mit mir.“ FDP-Chef Christian Lindner twitterte: „Die neue Ostpolitik war ein Verdienst von Egon Bahr. Die Freien Demokraten trauern um einen großen Mann.“ Auch die Grünen-Chefs Simone Peter und Cem Özdemir teilten mit, sie würden Bahrs Mut und Scharfsinn vermissen: „Er war bis zuletzt mit jeder Faser Politiker.“

Hamburgs Bürgermeister und SPD-Bundesvize Olaf Scholz würdigte Bahr als einen Staatsmann, dem die Deutschen viel zu verdanken hätten. Die von Bahr entscheidend mitverhandelten Ostverträge hätten die Menschen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wieder näher zusammengebracht.

Bahr sei ein ganz großer Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen, erklärte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig: „Egon Bahr hat wie nur wenige andere viel dazu beigetragen, dass der Eiserne Vorhang in Europa durchlässiger wurde und schließlich verschwand.“