Mit dem Ende des Friedensprozesses mit der PKK erhöht der Staatspräsident der Türkei den Druck auf die moderate Kurdenpartei HDP.

Ausgerechnet jener Mann, der den Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Arbeiterpartei PKK einst angestoßen hatte, der 2013 in eine Waffenruhe mündete, erklärt ihn nun für beendet: der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Mehr als drei Jahrzehnte lang hatten sich die türkischen Sicherheitskräfte und die Kämpfer der PKK einen erbitterten Kampf geliefert, der zeit- und stellenweise an einen Bürgerkrieg erinnerte. Mehr als 40.000 Menschen kamen dabei ums Leben.

Die bis zu 30 Millionen Kurden, die in verschiedenen Staaten der vorderasiatischen Region leben, gelten als das größte Volk der Welt ohne eigenen Staat. Bis zu 15 Millionen von ihnen wohnen in der Türkei. Bereits bei der Gründung der türkischen Republik durch Kemal Atatürk 1923 auf nur einem Rumpfgebiet des einst gewaltigen Osmanischen Reiches wurde den Kurden die Anerkennung als ethnische Minderheit verwehrt. Sie galten als „Bergtürken“; ihre Sprache durfte bis vor einigen Jahren nicht gelehrt werden. Die türkischen Nationalisten fürchteten vor allem nach dem Diktatvertrag von Sevres 1920, mit dem das Osmanische Reich beerdigt wurde, weitere Gebietsverluste durch kurdische Ansprüche auf einen eigenen Staat.

Erdogan, der die jahrzehntelang den politischen Kurs bestimmende türkische Generalität entmachtete, erkannte, dass dieser Guerillakrieg militärisch kaum zu gewinnen war und überdies das Ansehen der Türkei mit jedem blutigen Schlag gegen Kurdendörfer im Südosten beschädigte.

Seine dramatische Kehrtwende, die einer Kriegserklärung an die Kurden gleichkommt, hat vor allem innenpolitische Gründe. Erdogans politische Machtposition, die er zu einer Art modernem Sultanat ausbauen will, hat in jüngster Zeit eine erhebliche Schwächung erfahren. Bei den Parlamentswahlen am 7. Juli 2015 verfehlte Erdogans gemäßigt islamistische Regierungspartei AKP, die seit 2002 ununterbrochen mit absoluter Mehrheit an der Macht war, zum ersten Mal die Mehrheit der Mandate. Die prokurdische Partei HDP übersprang dafür zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik die Zehn-Prozent-Sperrklausel und errang 13,1 Prozent. Damit aber ist Erdogans Traum, ein auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem mit großer Machtfülle zu etablieren, vorläufig gescheitert. Denn für eine entsprechende Verfassungsänderung benötigt er eine qualifizierte Mehrheit im Parlament in Ankara.

Der Abbruch des Friedensprozesses mit den Kurden, den Erdogan mit den Worten erläuterte, es sei „nicht möglich, einen Lösungsprozess fortzuführen mit denjenigen, die Einheit und Integrität der Türkei untergraben“, erlaubt es ihm nun, auch gegen die prokurdische HDP vorzugehen. Darauf zielt bereits seine Ankündigung ab, „Politiker mit Verbindungen zu terroristischen Gruppen“ müssten juristisch belangt werden. Und natürlich gibt es Verbindungen zwischen der linksliberalen HDP und der als Terrororganisation verbotenen marxistischen PKK – deren lebenslang inhaftierter Chef Abdullah Öcalan hat die Gründung der HDP selber initiiert. Und die Politikerin Dilek Öcalan, die bei den Wahlen vom Juli als Abgeordnete ins Parlament einzog, ist Öcalans Nichte.

Oppositionelle und Menschenrechtler befürchten eine weitere Verschärfung des ohnehin schon autoritären Regimes von Erdogan, falls es ihm gelingen sollte, doch noch eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu bekommen. Als die PKK nach dem IS-Selbstmordanschlag von Suruc am 20. Juli nahe der syrischen Grenze mit 32 Toten und mehr als 100 Verletzten – der Täter war ein 20-jähriger Türke – zwei Polizisten als Rache dafür tötete, dass die türkische Regierung nichts gegen den IS-Terror unternehme, brach Erdogan sofort mit den Kurden.

Der sich nun wieder zuspitzende, hochkomplexe Kurdenkonflikt wird von manchen Beobachtern bereits als der Palästinenserkonflikt des 21. Jahrhunderts betrachtet. Er verwebt sich dramatisch mit jener Krise, die durch das Erstarken und Vordringen der radikalsunnitischen Terrormiliz „Islamischer Staat“ entstanden ist.

Einzig die Kurden haben bislang am Boden den Vormarsch des IS mit seinen grauenhaften Einschüchterungsmethoden aufhalten können: In Syrien sind dies vor allem die straff ­organisierten PKK-Kämpfer, die auf rund 15.000 Mann geschätzt werden. Und im Nordirak die 130.000 bewaffneten Peschmerga, die Armee der kurdischen Regionalregierung in Erbil. Sie sind bei Weitem nicht so kampfstark wie die PKK und werden daher unter anderem von Bundeswehrausbildern trainiert und von Deutschland mit ­Waffen beliefert.

Erdogan ist ein Sturz Assads viel wichtiger als der Kampf gegen den IS

In Syrien kämpfen zudem die Milizen der Kurdenpartei PYD, die ideologisch der PKK nahesteht. Ihr werden massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Erdogans außenpolitisches Ziel ist es vor allem, das ihm verhasste Regime des syrischen Diktators Baschar al-Assad niederzuwerfen. Assad ist Alawit. Diese Geheimsekte – nicht zu verwechseln mit den zumeist türkischen Aleviten – bestimmt die Geschicke in Syrien und steht den Schiiten Irans nahe. Teheran ist der große Verbündete und Drahtzieher im Hintergrund. Um einen Sturz ihres Schützlings Assad abzuwenden, setzt das Mullah-Regime im syrischen Bürgerkrieg auch iranische Spezialeinheiten ein.

Erdogan, der die türkisch-sunnitische Dominanz der Osmanen über die Region wiederherstellen will, ist ein Sturz Assads viel wichtiger als der Kampf gegen den ebenfalls sunnitischen IS. Denn der „Islamische Staat“ will immerhin, wie Erdogan, das Regime Assads beenden. Daher hat die Türkei den IS jahrelang geduldet und ihn wohl sogar mit Waffen und Munition ausgestattet, ihm Rückzugsräume ermöglicht und seine Verletzten in türkischen Krankenhäusern behandelt. Wie der Londoner „Guardian“ berichtete, erbeuteten US-Spezialeinheiten im Mai im Osten Syriens bei einem Einsatz zahlreiche Computer-Festplatten, die enge Kontakte zwischen türkischen Offiziellen und dem IS belegten.

Die türkische Oppositionspartei CHP verbreitete im vergangenen Jahr das Foto eines hochrangigen IS-Kommandeurs, der am 16. April 2014 im Hospital der türkischen Stadt Hatay behandelt worden sei. Erdogan glaubte, den IS als Waffe im Kampf gegen Assad instrumentalisieren zu können. Doch obwohl der langjährige Premier und jetzige Präsident eine Islamisierung der laizistischen Türkei einleitete, gilt er den Eiferern des „Islamischen Staates“ dennoch als Knecht des Westens, den man beseitigen müsse. Diese fundamentale Fehleinschätzung Erdogans wurde deutlich, als im Juni 2014 IS-Dschihadisten das türkische Konsulat in der irakischen Stadt Mossul stürmten und 49 Diplomaten als Geiseln nahmen: Die dort stationierten türkischen Soldaten erhielten den Befehl, nicht einzugreifen. Auf welche Weise die mysteriöse Freilassung der Geiseln nach 101 Tagen Haft dann gelang, ist bis heute ungeklärt. Tatsache ist, dass sich Erdogan rundweg weigerte, den IS als Terrororganisation einzustufen.

Washington und Ankara planen eine Pufferzone entlang der syrischen Grenze

Die türkische Offensive gegen die Kurden mit Luftangriffen auf die Logistik der PKK in Syrien und der Festnahme Hunderter Menschen in der Türkei bringt die Türkei äußerlich in einen Zweifrontenkrieg gegen den IS und die Kurden und innerlich in eine gesellschaftliche Zerreißprobe und akute Terrorgefahr. Die PKK dürfte nun, wie schon vor 2013, wieder Anschläge in der Türkei begehen. Die politische Aussöhnung zwischen Türken und Kurden, die sich in den Parlamentswahlen vom Juli niederschlug, ist akut gefährdet.

Erdogans Kurs wird derzeit unterstützt von den USA, die über die Angriffe auf die PKK hinwegsehen, weil ihnen der türkische Präsident endlich die ersehnte Nutzung vor allem des türkischen Luftwaffenstützpunktes Incirlik erlaubt, die US-Schläge gegen den IS logistisch erleichtern werden. Washington und Ankara haben den Plan einer 110 mal 65 Kilometer umfassenden Pufferzone entlang der syrischen Grenze vorgelegt. Aus diesem Gebiet soll der IS vertrieben werden; syrische Flüchtlinge sollen hier Schutz finden.

US-Präsident Barack Obama nennt den Pakt mit der Türkei einen „Game Changer“, einen Faktor also, der die Regeln des blutigen „Spiels“ in der Region zu Lasten des IS verändern soll. Die USA lassen sich damit immer stärker auf diesen undurchsichtigen Konflikt mit seinen komplexen Strukturen und Kraftlinien ein. Hier überlagern sich die Interessen vor allem der Türkei, des Irans, Syriens, Saudi-Arabiens, der verschiedenen Kurden sowie von Sunniten und Schiiten. In welcher Weise sich das „Spiel“ verändern wird, ist unklar. Das Vorgehen der Türkei dürfte die Krise aber eher anheizen als entschärfen.