Berlin. Unterlagen geben Einblicke in die Kommandostruktur der Terrormiliz. Steinmeier setzt auf irakische Regierung.

Im zähen Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) hat die westliche Allianz zuletzt Rückschläge einstecken müssen. Doch jetzt melden die USA einen spektakulären Aufklärungserfolg: Soldaten der US-Elitetruppe „Delta Force“ haben bei einer Razzia in Syrien offenbar wertvolle Unterlagen, Laptops und Mobiltelefone erbeutet, die neuen Einblick in die Funktionsweise der Terrormiliz erlauben. Das Material zeigt nach Regierungsangaben unter anderem, wie IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi aus dem Untergrund agiert und sich vor der Entdeckung durch die Koalitionstruppen schützt. „Jeden Tag wird das Bild etwas klarer, was diese Organisation ist, wie entwickelt sie ist, wie global sie ist und wie vernetzt“, zitierte die „New York Times“ einen Mitarbeiter des US-Außenministeriums.

Das Material zeigt auch, wie der ISseine Öl-Einnahmen verwendet

Bei der Aktion Mitte Mai hatte das US-Spezialkommando ein Gebäude in der ostsyrischen Stadt Amr gestürmt, um einen ranghohen IS-Führer festzunehmen. Der Tunesier Abu Sayyaf, der für Öl-, Gas- und andere Geschäfte des IS zuständig war, starb im Feuergefecht. Seine Frau wurde gefangen genommen, sie soll in Verhören wichtige Informationen preisgegeben haben. Zudem wurde umfangreiches Material sichergestellt, das sich den Regierungsangaben zufolge als „wahre Fundgrube“ erweist: So gehe aus den Daten hervor, dass sich Anführer Baghdadi regelmäßig in der syrischen Stadt Rakka mit regionalen IS-Führungsleuten trifft; besonders vertrauenswürdige Fahrer holen die Emire ab, lassen sich Mobiltelefone und andere elektronische Geräte aushändigen – um zu verhindern, dass Geheimdienste ihren Standort ermitteln können. Auch die Ehefrauen der IS-Führer spielen demnach bei den Sicherungsmaßnahmen eine wichtige Rolle: Sie sollen als Kuriere den Informationsaustausch zwischen den Kommandeuren gewährleisten, ohne dass diese direkt miteinander Kontakt aufnehmen müssten.

Das ausgewertete Material zeigt auch, wie der IS seine Öl-Einnahmen verwendet. Die eine Hälfte fließt demnach in die Kasse des IS, die andere in den Erhalt der Produktionsstätten und die Bezahlung der Arbeiter. Die US-Regierung leitet daraus bereits ab, dass die Ölarbeiter IS-Angestellte seien – und als legitime Angriffsziele eingestuft werden können. Weitere Informationen haben nach US-Angaben einen gezielten Luftangriff ermöglicht, bei dem vor zehn Tagen der IS-Kommandeur Abu Hamid getötet worden sein soll. Das Pentagon nennt die Erbeutung der Daten daher bereits einen „schweren Schlag“ gegen IS. Doch der „Islamische Staat“ hat sich stets als sehr anpassungsfähig erwiesen, seine Strategie immer wieder geändert. „Sie sind sehr beweglich, sie sind sehr aggressiv und sie nehmen jede Chance wahr, die sich bietet“, hat US-Präsident Barack Obama beim G7-Gipfel in Elmau geklagt.

Die Terrormiliz, die vor genau einem Jahr mit einem Überraschungsangriff auf die nordirakische Stadt Mossul ihren Vormarsch begann, kon­trolliert jetzt 50 Prozent des syrischen Staatsgebietes. Und mit der Eroberung der westirakischen Provinzhauptstadt Ramadi hat der IS der Regierung in Bagdad das zweite militärische Debakel nach dem Verlust von Mossul vor einem Jahr beschert – weshalb der irakische Regierungschef Haidar al-Abadi schon mangelnde Unterstützung der internationalen Anti-IS-Koalition beklagte, während aus den USA umgekehrt Zweifel am Kampfeswillen der irakischen Soldaten laut wurden.

3700 Luftangriffe der Allianz in zehn Monaten haben die Dschihadisten nicht entscheidend geschwächt, ihre wirtschaftliche Basis allerdings beschädigt: Die Einnahmen des IS aus dem Ölgeschäft sind deutlich zurückgegangen. Doch nach Erkenntnissen der Bundesregierung werden die Verluste verstärkt durch „kriminelle Einkommensquellen“ ausgeglichen. Raubgrabungen gehören dazu, Plünderungen archäologischer Fundstücke, Geiselnahmen und Sklavenhandel mit verschleppten jesidischen und christlichen Frauen, wie die Regierung kürzlich dem Bundestag berichtete. Insgesamt verfügt der IS demnach über einen Kapitalstock von bis zu zwei Milliarden US-Dollar. Man werde im Kampf gegen die Terrormiliz einen langen Atem brauchen, ist Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) überzeugt. Die US-Regierung rechnet bereits mit einem mehrjährigen Kampf, wie letzte Woche bei einer Anti-IS-Konferenz in Paris deutlich wurde.

Deutschland hat seine Hilfen geradeum 20 Millionen Euro aufgestockt

Vorerst will die Allianz bei der Arbeitsteilung bleiben: Die Bodentruppen stellt die irakische Armee, die Alliierten helfen aus der Luft. Deutschland werde auch die Unterstützung der kurdischen Peschmerga fortsetzen, verspricht der Außenminister. Den entscheidenden Schlüssel aber sieht Steinmeier bei der irakischen Regierung, der es gelingen müsse, die religiös-ethnischen Auseinandersetzungen im Land zu beenden und Sunniten und Schiiten im Kampf gegen den IS zu einen. Wichtig sei zudem, die vom IS befreiten Gebiete schnell zu stabilisieren – mit Hilfen bei der Lebensmittel- oder Gesundheitsversorgung, aber auch mit Unterstützung beim Wiederaufbau staatlicher Strukturen. Deutschland hat seine Hilfen dafür gerade um 20 Millionen Euro aufgestockt und hofft jetzt, dass andere Staaten folgen. „An einen leichten Sieg gegen IS haben wir nie geglaubt“, meint Steinmeier, „aber auch der Frieden wird nicht leicht.“