Berlin. Der Umzugswagen fährt auf den sandigen Boden am Oranienplatz. Junge Männer ziehen die Gummiplane beiseite und tragen Holzplatten zum Lagerfeuer. „Das ist für die nächsten Nächte. Es soll noch kälter werden, und das Gas für die Heizöfen ist teuer“, sagt Ahmed. Englisch spricht er gut, aber mit starkem Akzent. Er ist der Koch. Reis, Nudeln und Fleisch kaufen sie manchmal im Supermarkt nebenan, oft spenden Anwohner nicht nur Kleidung, sondern auch Geld oder Lebensmittel. „Wir geben trotzdem 3000 Euro im Monat für das Essen der 100 Leute aus“, sagt Ahmed. Aus einem Lautsprecher brummt Musik von Bob Marley.
Vor ein paar Jahren ist er aus einem Flüchtlingscamp im Sudan geflohen, aus Darfur, der Region, in der bewaffnete Islamisten und Regierungstruppen sich seit 2003 schwere Gefechte liefern. Über die Türkei, Griechenland und Italien sei er nach Deutschland gelangt, erzählt Ahmed.
Der kalte Dezember legt sich über Kreuzberg. Aus Fenstern der Altbauwohnungen um den Platz schimmert gelbes Licht, Akademikereltern schieben Kinderwagen am Zeltlager vorbei, in den türkischen Cafés läuft Fußball im Fernsehen. Und hier, auf dem Oranienplatz, haben sie gerade viele der rund 20 Zelte innen mit Spanplatten verstärkt – ein Schutz gegen Zugluft, sagen die Bewohner. Auf den Transparenten am Eingang zum Camp steht: „Kein Mensch ist illegal“. Und: „Keine Grenzen“. Einige sind zerfetzt vom Wind.
Wer an 2013 zurückdenkt, hat ein Wort der großen Debatte noch im Ohr: Lampedusa. In München hat die Polizei im Sommer ein Protestcamp mitten in der Stadt räumen lassen, weil die Flüchtlinge in den Hungerstreik getreten waren. Sie kamen fast alle aus Afrika, schwebten schon in Lebensgefahr, Gespräche scheiterten. In Hamburg lebten einige Flüchtlinge auf der Straße, bis sie Zuflucht in der St.Pauli Kirche fanden. Auch sie erzählten, dass sie vor dem Krieg aus Libyen geflohen waren und über Lampedusa in Hamburg gelandet sind. Seit Monaten streiten Senat, Kirche und Aktivisten darüber, wie mit den Flüchtlingen umzugehen ist. Lampedusa ist ein Kampfbegriff geworden – in vielen deutschen Städten, auch in Bremen oder Köln.
Die Flüchtlinge protestieren überall für das Gleiche: die Abschaffung der Residenzpflicht, einen Stopp aller Abschiebungen, ein dauerhaftes Bleiberecht sowie das Recht auf Arbeit. Die linken Aktivisten unterstützen sie in ihren Forderungen, einige nutzen das gleich für ihre Parolen gegen den gesamten „deutschen Imperialismus“.
Auch in Berlin. Seit anderthalb Jahren wohnen Flüchtlinge auf der Grünfläche am Oranienplatz und wollen ein Zeichen für ihre Rechte setzen. Wie lange noch, ist unklar. Mehrfach sollte die kleine Zeltstadt geräumt werden. Der Druck steigt, vor allem auf die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, 42. Vonseiten des CDU-Innensenators Frank Henkel, auch von einigen Anwohnern – und von der linken Szene.
Kreuzberg, dieser alternative Stadtteil, wo Autonome früher Häuser besetzten und in Straßenschlachten mit der Polizei eines konservativen Innensenators kämpften. Heute helfen einige Anwohner den campierenden Flüchtlingen mit Kleidung und Essen. Es gab Ultimaten, Krawalle und Vermittlungsversuche. Letztere scheiterten bisher, nur Momente der Entspannung waren in den vergangenen Monaten möglich. Und Herrmann, die grüne Bezirksbürgermeisterin, ist für Aktivisten um den Oranienplatz zum Feindbild geworden.
Auch Ahmed aus dem Sudan habe heute kein Vertrauen in Herrmanns Politik. Wenn sie am Camp auftauche, bedeute das nie Gutes. „Wir bleiben hier und kämpfen.“ Er habe selbst für einige Monate im Flüchtlingslager in Niedersachsen gelebt, unter schlimmen Bedingungen, wie er sagt. Er nennt den Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland rassistisch. Morgen wollen sie am Flughafen Tegel demonstrieren – gegen eine Fluggesellschaft, die damit „Profit“ mache, dass sie ihre Flüge für die Behörden bereitstelle. Flüge mit abgeschobenen Asylsuchenden.
Erst seit dem Sommer ist Herrmann in Kreuzberg Bürgermeisterin. Die Zelte standen da schon. Und Berlin erlebte in dieser Zeit kaum einen Tag, an dem nicht über die Flüchtlingsdebatte in Zeitungen zu lesen war. In Wittenau zäunten Anwohner ihren Spielplatz ein, um Kinder aus dem benachbarten Flüchtlingsheim fernzuhalten. In Hellersdorf gab es Proteste gegen ein Asylbewerberheim und anschließend Kundgebungen dafür. Und CDU-Innensenator Henkel machte bald keinen Hehl daraus, dass er das Camp am Oranienplatz lieber heute als morgen räumen lassen würde.
Herrmann unterstützte von Beginn ihrer Amtszeit an die Forderungen der Flüchtlinge. Im Sommer sagte sie, eine Räumung sei keine Lösung. „Das ist ein politisches Camp, kein Freizeitlager.“ Auch der Senator schlug da noch moderate Töne an. Die Tage waren warm, das Zeltlager in Kreuzberg mutete an wie ein kleines Hippie-Festival.
An diesem nasskalten Abend sieht es aus wie ein Feldlazarett. Ahmed läuft vorbei an dem Kochzelt. Ratten wühlen in den Mülltüten unter einem Bauwagen. Er geht in die Mitte des Platzes und schiebt die Zelttür beiseite. Drei Männer sitzen auf einem Sofa, in der Mitte liegen Taschen, am Rand stehen Pritschen und ein Hochbett aus Metall, manche schlafen in Wolldecken, andere in Schlafsäcken. Von der Decke baumelt eine Glühbirne, Rauch zieht durchs Zelt, die Männer rauchen Wasserpfeife. „So leben wir“, sagt Ahmed.
Als im Herbst die Nächte kühler wurden, musste eine Lösung her. Im Oktober verkündeten Herrmann und Berlins Sozialsenator Mario Czaja (CDU), es sei eine Unterkunft für die Flüchtlinge gefunden worden. Nur das Infozelt solle noch am Oranienplatz bleiben. Der Aufenthaltsstatus der Asylsuchenden müsse zudem geprüft werden. Einige Flüchtlinge lebten schon in Kreuzberg in einer ehemaligen Schule an der Ohlauer Straße. Die Bewohner des Camps hatten das Gebäude einst als Rückzugsraum besetzt. Es waren die Tage, an denen Medien die Nachricht von Hunderten Ertrunkenen im Mittelmeer meldeten. Vor dem Kanzleramt demonstrierten fast 400 Menschen gegen die EU-Politik.
Doch einen Monat später waren die Meldungen aus dem Mittelmeer vergessen. Und in Berlin spitzte sich die Lage zu. In der besetzten Schule gab es eine Messerstecherei unter Flüchtlingen. Und die Temperatur in den Kreuzberger Nächten fiel weiter. Der Senat präsentierte Pläne für die Winterunterkünfte, doch da waren Verträge mit den Eigentümern noch gar nicht unterzeichnet. Erst freuten sich die Flüchtlinge, dann wurden sie misstrauisch. Zwei Wochen später schien eine Lösung gefunden: Die Bewohner vom Oranienplatz sollten umziehen – in ein früheres Seniorenheim in den Wedding. 80 Flüchtlinge machten mit. 20 von ihnen wollten weiter protestieren. „Wir wollen hier nicht weg, das Camp ist unser Kampfplatz gegen Lager, Abschiebungen und die Residenzpflicht“, sagte eine Sudanesin einer Berliner Zeitung. Mit einem Haus sei noch keine dieser Forderungen erfüllt. Doch Monika Herrmann rief die Polizei.
Bei der Spontan-Demo gegen die Räumung kam es am Oranienplatz zu Ausschreitungen. Flaschen und Steine flogen auf die Polizei, Beamte sprühten Pfefferspray, fünf Männer wurden festgenommen. Herrmanns Kompromiss scheiterte. Inzwischen setzten sich Schauspieler und Musiker mit einer Plakatkampagne für die Flüchtlinge ein. Weil sie keinen Asylantrag stellen können, gibt es keine staatlichen Leistungen. Und Senator Henkel nannte dem Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain ein Ultimatum. Die Zelte müssten weg.
Ende Dezember ist Ahmed immer noch da. Nachts halten sie Wache. Obwohl viele nicht mehr im Zeltlager seien. Einige wären bei Unterstützern in Kreuzberg untergekommen. „Mal hier, mal dort für ein paar Tage.“ Ein junger Deutscher mit Dreadlocks kommt zu Ahmed ans Lagerfeuer und fragt nach ein paar Euro für Zigaretten.
Gerade habe der Mann einen Gasofen besorgt, dahinten stehe die alte, leere Kartusche. „Wir kaufen jede Woche ein paar Dutzend Kanister mit Gas zum Heizen. Jeder kostet 20 Euro“, sagt Ahmed. Abwasser, Müllabfuhr, Strom – das alles würden sie durch die vielen Spenden selbst bezahlen können.
Eine Woche vorher setzte der Innensenator in einer Pressemitteilung dem Bezirk eine neue Frist: Am 18.Januar müsse das Camp geräumt sein. Sonst räume er selbst. Ein runder Tisch aus Kirchen, Flüchtlingsinitiativen und Bezirksvertretern suchte weiter nach Lösungen. Der Senator nahm bisher nicht daran teil. Die linke Szene mobilisierte schon einmal über das Internet zu Demonstrationen. Und der Berliner Boulevard peitschte mit Schlagzeilen weiter ein: „Festung Oranienplatz“, wo sie sich für „die Schlacht rüsten“. Bezirkspolitikerin Herrmann warnte im Voraus, dass die Situation in Kreuzberg so eskalieren könnte wie in Hamburg. Auch sie wolle nun eine Räumung des Oranienplatzes. Nur wie, sagte sie nicht.
Doch diese Woche erlebte Berlin eine überraschende Wende. Innensenator Henkel scheiterte im Senat mit seinen Räumungsplänen – am Machtwort von SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit. Dieser wollte weiter mit Flüchtlingen und deren Unterstützern reden. Und mit dem Koalitionspartner CDU. Am Wochenende treffen sich die Spitzen zum Krisengespräch. Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann hat etwas Ruhe. Ihr Bezirksamt erteilte eine Duldung für das Camp. Vorerst.
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