Das öffentliche Interesse am NSU-Prozess ist immens. Drei Hamburger Anwälte fordern die Videoübertragung der Verhandlung in einen zweiten Gerichtssaal. Der Antrag könnte eine revolutionäre Entscheidung erzwingen.

Die Hamburger Anwälte der Hinterbliebenen von Halit Yozgat haben beim Münchner Oberlandesgericht die Übertragung der NSU-Verhandlung in einen zweiten Gerichtsaal gefordert. Thomas Bliwier, Alexander Kienzle und Doris Dierbach aus der renommierten Kanzlei bdk wollen mit dem Antrag, der der „Welt“ vorliegt, eine durchaus revolutionäre Entscheidung erzwingen. Denn bislang galt, dass der Paragraph 169 des Gerichtsverfassungsgesetzes genau das verbietet: „Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind unzulässig“ steht dort in Satz 2.

Doch genau dieser Satz, meinen die Anwälte, werde zu Unrecht als absolutes Übertragungsverbot gedeutet. Erst am Mittwoch hatte sich der Präsident des Bundesgerichtshofs, Klaus Tolksdorf, zwar skeptisch zur Videoübertragung geäußert. Allerdings sei sie juristisch nicht ausgeschlossen. Dies sei rechtlich eine sehr schwierige Frage, sagte Tolksdorf. Die drei Juristen aus Hamburg drehen den Spieß jetzt um und legen nahe, dass eine Videoübertragung für ein geordnetes Verfahren sogar nötig sei, um die verfassungsmäßig garantierte Öffentlichkeit in dem Verfahren gewährleisten zu können.

So habe kein einziges türkisches Medium einen festen Sitzplatz erhalten, weil die 60 Plätze für Journalisten im zweifelhaften „Windhundverfahren“ vergeben worden sind. Wer regelmäßig nachfragte, wusste sogar schon vorher, wann die entscheidende E-Mail mit der Aufforderung zur Akkreditierung verschickt werden würde, wie die Pressesprecherin des Gerichts zugeben musste. Ein transparentes Verfahren sieht anders aus.

Öffentlichkeit muss gewährleistet sein

Für die „Herstellung der Öffentlichkeit“ dürfe das Gericht sich „nicht einzig an der baulich bedingten Sitzplatzanzahl“ orientieren, so die Anwälte. Im Gegenteil: Die hochgekochte Diskussion und die besonderen Umstände der Morde müssten das Maß an Öffentlichkeit in der Verhandlung bestimmen. Da im Strafverfahren die „Öffentlichkeitsmaxime“ gelte, werde der 6. Strafsenat durch die Auswahl des Sitzungssaales, die „massive Beschränkung des öffentlichen Zugangs zur Hauptverhandlung“ und eine „fehlende Kompensation“ dieser Missstände „nicht ausreichend Rechnung getragen“, schreiben die drei Verteidiger. Das Material würde ja auch nicht frei empfangbar gesendet, sondern nur innerhalb des Gerichts übertragen.

Ihre Argumente stützen die Juristen mit einer Vielzahl von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die allesamt betonen, wie wichtig die Öffentlichkeit für den Strafprozess ist. Die Haltung von Richter Manfred Götzl, sich jedem Kompromiss in dieser Frage zu verschließen, greifen die Anwälte von bdk scharf an: „Angesichts des Gewichts des nationalen wie internationalen (medialen) Informationsinteresses“ sei sein Vorgehen „nicht zu rechtfertigen“. Seine restriktive Auslegung des Paragraphen 169 bleibe „hinter den maßgeblichen Anforderungen bei Weitem“ zurück.

Das sehe auch das Bundesverfassungsgericht so, dass eine dem „jeweiligen Informationsinteresse der Öffentlichkeit gerecht werdende Zulassung der Öffentlichkeit und der Berichterstattung“ fordere. Das lässt sich so lesen, als verstoße das OLG gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, wenn es um die Herstellung von Öffentlichkeit geht.

Übertragung als richterliche Pflicht

Die Hamburger Juristen stehen mit dieser Meinung keineswegs alleine da. Bereits am Dienstag sprach sich der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholtz für eine solche Übertragung aus. Er halte diese sogar für unerlässlich. „Die Öffentlichkeit selbst bestimmt das Ausmaß ihrer Gewährleistung. Niemand sonst“, sagte er in einem Leserbrief in der „Süddeutschen Zeitung“. „Reicht der Gerichtssaal nicht aus, ist die Videoübertragung in einen zweiten hinlänglich großen Raum unumgängliche richterliche Pflicht.“

Aus Sicht der Anwälte Thomas Bliwier, Alexander Kienzle und Doris Dierbach ließe sich das auch einfach lösen. Die erforderlichen Einrichtungen zur Übertragung sind vorhanden, der technische Aufwand wird sich in Grenzen halten, schreiben sie. Die Beschränkung der Öffentlichkeit würde „wesentlichen Vorgaben des Rechtsstaatsgebots und des Demokratieprinzips nicht gerecht“. Hiergegen wolle sich ihr Mandant Ismail Yozgat, Vater des ermordeten Halit, wehren. Bereits am 30. März hatte er seine Sorgen und Bedenken in einem persönlichen Schreiben an das OLG mitgeteilt. Eine Antwort hat er bis heute nicht bekommen.