Rund 1.000 Mitglieder der Piratenpartei debattieren auf dem Bundesparteitag in Bingen über die Frage „Bewegung“ oder „Vollpartei“.

Bingen. Ein Mann, ein Laptop, so könnte die Kurzbeschreibung des durchschnittlichen „Piraten“ lauten. In der alten Wagenhalle mit Blick auf den Binger Mäuseturm ist der durchschnittliche Besucher an diesem Samstag jedenfalls um die 30 Jahre, männlich und mit einem Laptop bewaffnet. Die Piratenpartei enterte am Wochenende zu ihrem 5. Bundesparteitag die Stadt am südlichen Eingang zum Mittelrheintal. Vor der Tür wehte die Piratenflagge, es gab Crepes und Bratwurst, und am Abend wartete ein Ausflugsschiff auf die Mannschaft zum Entern.

Im Saal aber tobten heiße Diskussionen der „Mitmachpartei“ um die Frage: Bleiben die „Piraten“ eine Splitterpartei für die digitale Internetbewegung oder entwickeln sie sich zu einer Vollpartei? Die Piratenpartei versteht sich als basisdemokratische Bewegung aus der Internetszene heraus. Der allgemeine Gruß heißt „Ahoi“, man ist auf Facebook und Flickr unterwegs, und müde Blogger bekommen schon mal eine Schultermassage. Tatsache ist: Bei dieser Partei ist der Zugang zur multimedialen Welt des Internets einfach Voraussetzung.

WLAN-Zugang und Passwörter sind das erste, was auf der großen Leinwand erscheint. Den Bericht des Vorsitzenden gibt es in Kurzform auf Twitter, die mehr als 400 Anträge zu Programm und Satzung stehen im „Piraten-Wiki“, einer interaktiven Internetplattform, auf der diskutiert, verändert und auch das Abstimmungsverhalten angekündigt wird. Ein Landesverband hat sogar eine neue Software entwickelt, die ein „liquid feedback“, eine flexible Beteiligung, ermöglichen soll, und der politische Geschäftsführer Thorsten Wirth sagt den schönen Satz: „Alles ist immer verhandelbar.“

Das gilt auch und vor allem für das Parteiprogramm, das natürlich auch im „Wiki“ steht. Bisher rankt es sich vornehmlich um die Themen der digitalen Welt: Datenschutz, freier Internetzugang, Urheberrecht und Vorratsdatenspeicherung. Im Saal indes wird über Fragen diskutiert wie Redezeitbegrenzung, Verkleinerung oder Vergrößerung des Vorstands und überhaupt: Wieviel Macht soll der Vorstand bekommen?

Das erinnert an die Gründungsphase der Grünen, als die Öko-Partei verbissen über Realo- und Fundi-Ausrichtung debattierte, Rotationssysteme einführte und nur ja nicht zu viel Macht den Spitzen verleihen wollte. Bei den Piraten verläuft die Diskussionslinie entlang der „Kernis“ – denen, die am Kernprogramm festhalten und denen, die eine Ausweitung auf alle Themen wollen.

Die Piraten seien mit den Grünen aber nur bedingt vergleichbar, sagt Alex Hensel, Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die Basis der Grünen sei mit Umwelt, Friedens- und Frauenbewegung breiter gewesen, bei den Piraten stelle sich noch die Frage, wie breit die Bewegung wirklich sei. „Es gibt eine Netzbewegung, die für Informationsfreiheit, Internetpolitik und Bürgerrechte eintritt“, sagt Hensel, dessen Magisterarbeit sich mit dem Aufstieg der Piratenpartei im Sommer 2009 beschäftigt.

Die Piratenpartei speise sich aus dieser Bewegung und greife damit auch einen fundamentalen gesellschaftlichen Konflikt auf: den der Digitalisierung, sagt Hensel. Zudem gelinge es der Partei recht durchgängig, ein junges, vorwiegend männliches Klientel mit sehr spezifischen Interessen, Ressourcen und Kompetenzen anzusprechen. Im Sommer 2009 habe es kurz vor der Bundestagswahl zudem mit den Internetsperren ein Aufreger-Thema gegeben, die Piraten hätten mit ihrem sehr offenen und integrativen Ansatz „den Nerv der Zeit“ getroffen. Das schlechtere Abschneiden in NRW vor einer Woche mit nur 1,5 Prozent habe bei einigen Mitgliedern aber die Motivation gesenkt, sagt Hensel. Ob die Partei bei weiteren Wahlmisserfolgen in der Lage sei, sich zu halten, sei fraglich.

Die Piraten am Scheideweg – das gilt auch für die Frage des Wählergeschlechts. Christa Richter ist eine der vielleicht zehn Prozent Frauen in der Halle und räumt offen ein, sie müsse die Jungs schon oft bei ihrem „Tech-Sprech“ stoppen. Trotzdem ist die 17-Jährige ein begeisterter Pirat, weil „man hier sofort was machen und sich einbringen kann“. Das gebe es bei keiner anderen Partei, meint die Schülerin aus Rostock, die in einem Internat lebt. Dort habe sie erlebt, dass Internetseiten zensiert würden, „und nicht nur die, die sie dürfen“, sagt Richter. Die Piratenpartei hat weiter Zulauf, bisher auf rund 12.400 Mitglieder. Am Sonntag wird weiter diskutiert über Kernthemen, Ausweitung und die führenden Köpfe – Online, versteht sich, per Laptop.