Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat die Fünf-Prozent-Klausel bei Europawahlen gekippt. Sie benachteilige kleinere Parteien und verstoße gegen die Chancengleichheit. Linke fordern Abschaffung der Sperrklausel auch bei Bundestagswahlen.

Karlsruhe. Die für Deutschland geltende Fünf-Prozent-Klausel bei Europa-Wahlen ist verfassungswidrig und nichtig. Das erklärte das Bundesverfassungsgericht in einem am Mittwoch veröffentlichten Urteil. Kleinere deutsche Parteien haben somit die Chance, in das Europaparlament einzuziehen. Die Klausel benachteilige kleinere Parteien und verstoße gegen die im Grundgesetz verankerte Chancengleichheit der Parteien, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Die Entscheidung fiel mit fünf gegen drei Stimmen. Die Wahl zum EU-Parlament im Jahre 2009 bliebe jedoch gültig und müsse nicht wiederholt werden. Zugleich stellten die Richter klar, dass bei Bundestagswahlen die Fünf-Prozent-Hürde weiter berechtigt sei. (Az.: 2 BvC 4/10 u.a.)

Die Fünf-Prozent-Hürde bewirke eine „Ungleichgewichtung“ der Wählerstimmen, weil Stimmen für kleinere Parteien, die an der Hürde scheitern, ohne Erfolg bleiben. Die Situation sei nicht mit der im Bundestag vergleichbar, da das Europäische Parlament keine Regierung wählt, die auf die ständige Unterstützung einer Parlamentsmehrheit angewiesen wäre. Bei den Europawahlen 2009 wären ohne die Klausel aus Deutschland zusätzlich sieben Parteien ins Parlament eingezogen.

Jeder Mitgliedstaat kann die Regeln für die Wahlen zum Europäischen Parlament selbst bestimmen. Mehrere EU-Staaten haben niedrigere oder überhaupt keine Sperrklauseln. Die deutschen Regeln seien am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien zu messen, so Voßkuhle. Regelungen, die in die Gleichheit des Wahlrechts und die Chancengleichheit der Parteien eingreifen, bedürften eines „zwingenden Grundes“.

Bei Eingriffen in die Gleichheit des Wahlrechts habe der Gesetzgeber nur einen engen Spielraum. Schließlich werde die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen „in eigener Sache“ tätig, erklärte Voßkuhle. Dabei sahen die Richter die Gefahr, dass die im Bundestag vertretenen Parteien sich mit einer Sperrklausel die Konkurrenz kleinerer Parteien vom Hals halten könnten.

Es sei nicht erkennbar, dass die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments beim Einzug weiterer kleiner Parteien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit beeinträchtigt würde, hieß es. Die „allgemeine und abstrakte Behauptung“, durch einen Einzug kleinerer Parteien werde die parlamentarische Willensbildung erschwert, könne den Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit nicht rechtfertigen, so die Urteilsbegründung. Diese integrierten erfahrungsgemäß eine große Bandbreite verschiedener politischer Strömungen und fänden in angemessener Zeit per Absprache zu Mehrheitsentscheidungen. Drei der acht Richter stimmten allerdings gegen die Entscheidung.

Die Kläger - der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim und zwei Wähler - hatten in den Regelungen die Chancengleichheit kleinerer Parteien verletzt gesehen. Etablierte Parteien würden zulasten kleinerer Parteien von der Sperre profitieren, hatte Arnim in der mündlichen Verhandlung im Mai argumentiert. Denn sie erhielten proportional mehr Sitze im EU-Parlament, wenn kleinere Parteien scheiterten.

Dieser Argumentation folgten die Verfassungsrichter. Die Hürde sei beim EU-Parlament nicht zu rechtfertigen, hieß es. Bei der EU-Wahl 2009 seien aufgrund der Klausel rund 2,8 Millionen und damit zehn Prozent der gültig abgegebenen deutschen Wählerstimmen unter den Tisch gefallen, sagte Voßkuhle. Diese Stimmen hätten keinen Erfolg gehabt, was eine Verletzung der Wahlrechtsgleichheit sei. Ohne Sperre würde das EU-Parlament anstatt aus 162 aus 169 Parteien bestehen, hieß es weiter.

Die starren Listen für das EU-Parlament verletzen nach Ansicht des Verfassungsgerichts jedoch nicht das Wahlrecht der Bürger. Hier kann nur die gesamte Liste gewählt werden, der Wähler hat aber keinen Einfluss darauf, in welcher Reihenfolge die Kandidaten bei der Sitzverteilung zum Zuge kommen. Wie bei den nationalen Wahlen auch sei das nicht zu beanstanden.

Die Linkspartei forderte als Konsequenz aus dem Urteil, auch bei Bundestagswahlen die Sperrklausel abzuschaffen. Dieses „undemokratische Relikt“ passe nicht in die zeit, verzerre Wahlergebnisse und verstärke Politikverdrossenheit, erklärte Bundesgeschäftsführer Werner Breibus.

Die Grünen begrüßten, dass das Verfassungsgericht auf Chancengleichheit der Parteien und den Grundsatz der Wahlrechtsgerechtigkeit abhebe. Dies sei ein Signal für den bevorstehenden Verfassungsstreit um Überhangmandate, erklärte der Parlamentarische Geschäftsführer Volker Beck.

Der Verein Mehr Demokratie erklärte, ohne Fünf-Prozent-Hürde werde das taktische Wahlverhalten eingedämmt. Bisher hätten viele Wähler ihre Stimme eher etablierten Parteien gegeben aus Angst, sie ganz zu verschenken, wenn sie kleine Parteien ankreuzten, sagte Vorstandssprecher Michael Efler.

Mit Material von dpa/reuters