Der Schlichter im Streit um Stuttgart 21, Heiner Geißler, schlägt einen Kompromiss vor. Die Deutsche Bahn will den Bau am Bahnhof nicht stoppen.

Stuttgart. Ist das der nächste Schritt in Richtung friedlicher Lösung des seit Monaten andauernden Streits um das Großprojekt Stuttgart 21 der Deutschen Bahn? Heiner Geißler, der Schlichter zwischen den verhärteten Fronten der Stuttgart-21-Gegnern und der Deutschen Bahn, hat einen Kompromiss vorgeschlagen, der die Streitereien beenden könnte. Geißlers Kompromiss sieht einen viergleisigen Tiefbahnhof vor. Demnach solle der neue Bahnhof unter dem bestehenden Kopfbahnhof liegen, erklärte Geißler am Freitag. Das alte Bahnhofsgebäude könne damit seine Funktion behalten. Im neuen Tiefbahnhof könnten die Bahnsteige breiter gestaltet werden. Der Südflügel würde stehenbleiben. Zudem würden die Einschnitte im angrenzenden Park kleiner ausfallen. Geißler betonte, die Bundesregierung sei von seinem Kompromissvorschlag unterrichtet.

Das Aktionsbündnis gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 hat den Kompromissvorschlag als Verhandlungsgrundlage bereits akzeptiert. "Wir sehen in dem Vorschlag eine Möglichkeit zum Kompromiss“, sagte die Sprecherin des Bündnisses, Brigitte Dahlbender, am Freitagabend im Stuttgarter Rathaus. Die Bahn müsse dann aber sofort einen Bau- und Vergabestopp verfügen.

Ungeachtet dessen will die Bahn den Bau des Tiefbahnhofs jedoch fortsetzen. "Wir werden in dem Projekt weitermachen“, sagte Bahn-Vorstand Volker Kefer zum Abschluss der Schlichtung im Stuttgarter Rathaus. Geißlers Vorstoß wollte der Bahnmanager zunächst nicht kommentieren. Das Papier, das Geißler gemeinsam mit dem Schweizer Verkehrsberatungsbüro sma erarbeitet hat, trägt den Titel: "Frieden in Stuttgart.“

Heiner Geißler, der frühere CDU-Generalsekretär, warb für seinen Vorstoß mit den Worten: "Es gibt in der Demokratie immer den besseren Weg des Sowohl-als-auch.“ Geißler empfahl, Gegner und Befürworter sollten sich den Vorschlag eine Weile durch den Kopf gehen lassen. Er mahnte aber auch: "Man kann heute nicht mehr per ordre de mufti entscheiden.“

Die Kosten für das Kombi-Modell schätzen sma und Geißler auf 2,5 bis 3 Milliarden Euro. Der Tiefbahnhof soll 4,1 Milliarden Euro kosten. In Geißlers Konzept würde der viergleisige, unterirdische Bahnhof direkt unter die heutigen Kopfbahnhofgleise gelegt. Die bisher geplante Durchgangsstation sollte quer zum bestehenden Bahnhof liegen, der nur noch zehn bis zwölf Gleise haben soll.

Grün-Rot im Land äußerte sich uneinig. "Ich kann für unsere Seite nicht zusagen, dass wir dem in der Landesregierung zustimmen können“, sagte Finanz-Staatssekretär Ingo Rust (SPD). Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) sagte dagegen: "Ich möchte, dass wir diesen Vorstoß wenigstens prüfen. Ob er machbar ist, kann ich noch nicht sagen.“

Den Baustopp lehnte Bahnvorstand Kefer am Ende der zehnstündigen Sitzung rundweg ab. Er appellierte an die grün-rote Landesregierung, endlich eine gemeinsame Haltung zu dem Projekt zu finden. Ohne die Unterstützung des Projektpartners Land könne das Bahnprojekt kaum ein Erfolg werden. "So kann das nicht weitergehen“, mahnte Kefer. Die Grünen sind strikt gegen das Projekt, die SPD mehrheitlich dafür.

Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, der Präsident der Region Stuttgart, Thomas Bopp (beide CDU) und CDU-Fraktionschef Peter Hauk lehnten den Vorstoß ab. Das Konzept sei bereits in der Schlichtung abgelehnt worden. "Der Vorschlag ist honorig und ehrenwert, aber er kommt 15 Jahre zu spät“, sagte Hauk. Eine Änderung der Projektpläne würde die Stadt und die Region weit zurückwerfen.

Geißler begründete seinen Vorstoß in seinem Papier wie folgt: "Angesichts der enormen Risiken und der verhärteten Fronten fühle ich mich als Schlichter verpflichtet, alle Beteiligten zu bitten, die Chancen einer Friedenslösung zu prüfen.“ Als Kompromiss schlägt er konkret vor: "Die Grundidee einer durchgehenden Schnellfahrstrecke Mannheim – Stuttgart-Ulm mit einem tiefliegenden Durchgangsbahnhof in Stuttgart an heutiger Lage bleibt bestehen. Dagegen soll ein etwas verkleinerter Kopfbahnhof mit seinen Zufahrten und die Gäubahn auf dem Stadtboden von Stuttgart weiterhin in Betrieb bleiben.“

Hermann erklärte, einen ähnlichen Vorschlag hätten die Grünen bereits in den 1990er Jahren gemacht, nun müsse Geißlers Variante untersucht werden. "Das Ziel von Heiner Geißler ist es, aus der völlig verfahrenen Situationen einen Ausweg zu finden. Alle sollten deshalb in sich kehren, sich keinem Vorschlag grundsätzlich verschließen.“ Dies gelte auch für ihn.

Kurz bevor Geißler seinen Vorschlag den Gegnern und Befürwortern unterbreitete, hatten sich die Fronten weiter verhärtet. Das Aktionsbündnis wollte bei der Präsentation der Ergebnisse des Stresstests für Stuttgart 21 den Raum verlassen, weil die Bahn sich nicht bereit erklärte, den bestehenden Kopfbahnhof einem Stresstest zu unterziehen. "Das ist eine Kampfansage“, sagte Dahlbender.

Die Bahn erklärte sich lediglich bereit, den zentralen Bestandteil des Stresstests noch einmal zu wiederholen. "Diesen weiteren Simulationslauf kann man relativ kurzfristig machen“, sagte Kefer. Man werde dem Vorschlag des Schweizer Gutachters sma folgen. Die Verkehrsberatung hatte empfohlen, einige Unstimmigkeiten zu korrigieren und eine zweite Simulation zu machen. Er betonte jedoch, dies sei kein zweiter Stresstest, wie ihn die Projektgegner fordern. Der grüne Verkehrsexperte Boris Palmer hatte verlangt, die Gegner müssten dabei einbezogen werden und die Voraussetzungen müssten geändert werden.

Der Plan der Deutschen Bahn sieht vor, bis Ende 2019 für 4,1 Milliarden Euro den 16-gleisigen Kopfbahnhof in einen achtgleisigen unterirdischen Durchgangsbahnhof umzubauen. Dies ruft massive Proteste der Stuttgart-21-Gegnern auf den Plan. In einer öffentlichen Debatte war am Freitag ein Gutachten vorgestellt worden, das zeigen sollte, ob der neue Bahnhof mehr leisten könne als der bisherige. Nach dem Vorschlag zogen sich die Gegner des Projekts, das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, zu Beratungen zurück.

Bereits in der vergangenen Woche war bekannt geworden, dass das umstrittene Milliarden-Projekt den Test bestanden hatte. Das Gutachten bestätigt die Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs.

Hermann hatte erklärt, nötig sei kein kompletter neuer Stresstest, aber ein weiterer Simulationslauf. Auf diesen Kompromiss hatten sich die Koalitionspartner Grüne und SPD bereits am Donnerstag geeinigt. Selbst CDU-Landeschef Thomas Strobl hatte einen weiteren Probelauf nicht ausgeschlossen.

Noch am Vormittag wollte die Bahn von einer Überprüfung nichts wissen. Bahn-Vorstand Kefer sagte, man habe nach allen Regeln der Kunst den Nachweis geführt, dass der geplante Tiefbahnhof zur Hauptverkehrszeit am Morgen 49 Züge pro Stunde abfertigen könne. "Wir haben genug Transparenz geleistet.“ Projektsprecher Wolfgang Dietrich sagte: "Eine neue Simulation können wir in einem Jahr mal wieder machen.“

Sma-Chef Werner Stohler sagte bei der Vorstellung der Studie: "Das Gesamtresultat ist stabil.“ Ergebnis war, dass mit der geplanten Durchgangsstation die Verspätungen leicht abgebaut werden können. Es sei aber eine gute Idee, wegen einiger "Beinahe-Kleinigkeiten“ einen weiteren Simulationsdurchlauf zu machen, erklärte Stohler.

Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 beurteilte das Gutachten als wertlos, weil die Bahn falsche Annahmen zugrundegelegt habe. "Das ist kein Stresstest, das ist ein Schönwetterbetrieb mit leichten Störungen“, sagte die Bündnis-Sprecherin Brigitte Dahlbender. Die Gegner seien bei der Vorbereitung des Tests "systematisch ausgegrenzt“ worden. Kefer wies die Vorwürfe als "Unterstellung“ zurück. Geißler stellte sich in der Frage der Beteiligung der Gegner beim Stresstest hinter das Aktionsbündnis.

Palmer versuchte am Nachmittag, die Glaubwürdigkeit der Bahn und der sma zu erschüttern. Die Studie habe die Note "wirtschaftlich optimal“ ergeben, woraus die Bahn geschlossen habe, dass Stuttgart 21 den Test bestanden habe. In der Schlichtung sei aber vereinbart worden, dass die Note "gut“ erreicht werden müsse, sagte der Tübinger Oberbürgermeister. "Wirtschaftlich optimal“ sei nur befriedigend, weil der geplante Tiefbahnhof keine Verspätungen abbauen könne. Stuttgart 21 habe den Stresstest nicht bestanden.

Kefer warf dem Grünen-Politiker vor, er operiere mit "Halbwahrheiten und Falschheiten“. Der Gutachter sma sei zu anderen Ergebnissen gekommen. Palmer stellte jedoch die Unabhängigkeit der sma infrage: Die Firma bewerbe sich derzeit um ein neues Fahrplanungsprogramm der Deutschen Bahn. Geißler sprach von einer Unterstellung, für die Palmer die Beweise schuldig bleibe: "Ich werde es nicht zulassen, dass man die Gutachter unter Verdacht stellt.“ Stohler entgegnete Palmer: "Wir sind der Objektivität und der Neutralität verpflichtet.“

(abendblatt.de/reuters/dpa)