Zwar hat Erdogan die angestrebte Zweidrittelmehrheit klar verfehlt, doch will der türkische Ministerpräsident einen breiten Konsenz für eine Verfassungsreform schaffen.

Istanbul/Brüssel. Die Wahl gewonnen – die für die Verfassungsreform angestrebte und notwendige Zweidrittelmehrheit aber klar verfehlt: Die Türkei hat bei den Parlamentswahlen erneut die Partei des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyib Erdogan, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), zur stärksten Kraft gewählt.

Um doch noch eine Verfassungsreform umsetzen zu können, versucht Erdogan nun im breiten Konsens mit den anderen Parteien eine neue Verfassung ausarbeiten. Dies sagte Erdogan in seiner Siegesrede vor tausenden jubelnden Anhängern in Ankara.

Zudem kündigte Erdogan nach seinem dritten Wahlsieg seit 2002 an: "Wir werden bescheiden sein. Wir werden Konsens mit der Opposition suchen, mit nicht im Parlament vertretenen Parteien, mit den Medien, Nichtregierungsorganisationen, mit Akademikern, mit jedem, der etwas zu sagen hat.“

Der türkische Fernsehsender TRT berichtet, dass Erdogans religiös-konservative AKP auf 50 Prozent kam, das entspräche 325 der 550 Parlamentssitze. Bisher waren es 331 Sitze.

Die stärkste Oppositionskraft, die Republikanische Volkspartei (CHP) lag demnach bei 26 Prozent. Die oppositionelle Nationalistische Aktion (MHP) schaffte es mit 13 Prozent wieder über die Zehn-Prozent-Hürde. Wahlberechtigt waren 50 Millionen Bürger, das sind zwei Drittel der Bevölkerung. Die Wahlbeteiligung lag laut dem Fernsehsender NTV bei 87 Prozent.

Um die 550 Mandate bewarben sich 15 Parteien und 200 parteilose Kandidaten. Ein Wahlsieg der AKP war erwartet worden. Ohne Zweidrittelmehrheit wird sie sich mit anderen Parteien über die angekündigte neue Verfassung abstimmen müssen, die die vom Militär 1982 nach dem Putsch eingesetzte Verfassung ablösen soll.

Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bezeichneten die Parlamentswahl als gut organisiert und als eine Demonstration von Pluralismus. Das Land sollte aber Defizite bei der Meinungsfreiheit abbauen und eine Medienlandschaft „frei von politischem Druck“ schaffen, teilten die OSZE-Delegation am Montag mit. Sie kritisierte ferner die Zehn-Prozent-Hürde, die kleineren Parteien den Einzug ins Parlament verwehre.

Erdogan erinnerte in seiner Siegesrede in Ankara an das politische Chaos der Vergangenheit und verwies auf die demokratischen Fortschritte. „Die Türkei, die von den Banden bestimmt wurde, ist eine Sache der Vergangenheit“, sagte er. Seit seinem ersten Wahlsieg 2002 hat Erdogan das Land mit wirtschaftlichen Reformen auf Wachstumskurs gebracht. Im vergangenen Jahr wuchs die türkische Wirtschaft um fast neun Prozent. Von den G-20-Staaten hatte nur China ein größeres Wachstum.

Trotz allen Errungenschaften seiner Amtszeit wie wirtschaftlichem Aufschwung und wachsender regionaler Bedeutung halten Opposition und manche Beobachter Erdogan nachlassenden Reformeifer und zunehmend autokratische Züge vor. Die Beitrittsverhandlungen mit der EU treten auf der Stelle.

In seiner Siegesrede unterstrich Erdogan seinen Anspruch, die Türkei zu eine regionalen Führungsnation zu machen, zu einer Stimme der Muslime. Bosnier, Libanesen, Syrer und Palästinenser würden von seinem Wahlsieg genauso profitieren wie die Türken, sagte er.

Die Wahl verlief weitgehend friedlich und ohne größere Zwischenfälle. In der Provinz Sanliurfa im Südosten wurden vier Personen unter den Verdacht festgenommen, mit den Wahlkarten anderer Leute mehrfach abgestimmt zu haben.

In Ankara löste die Polizei mit Warnschüssen und Tränengas ein Handgemenge in einem Wahllokal auf, wo der Nachrichtenagentur Anadolu zufolge eine Gruppe von Wählern einer anderen unrichtigerweise gefälschte Wahlunterlagen unterstellt hatte. In der Provinz Batman wurden nach Berichten der Agentur 34 Personen festgenommen, die versucht haben sollen, andere zur Stimmabgabe für die kurdische Partei für Frieden und Demokratie zu zwingen. Die ging mit Einzelkandidaten ins Rennen, um die Zehn-Prozent-Hürde zu umgehen. Sie gewann mit dieser Taktik 36 Sitze.

EU gratuliert Erdogan zum Wahlsieg

Unterdessen hat die Europäische Union dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyib Erdogan zum Wahlsieg seiner religiös-konservativen Partei bei der Parlamentswahl gratuliert. "Das Ergebnis eröffnet den Weg zur weiteren Stärkung der demokratischen Institutionen der Türkei ebenso wie zur fortgesetzten Modernisierung des Landes im Sinne europäischer Werte und Standards“, schrieben EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und EU-Ratspräsident Herman van Rompuy in einem am Montag in Brüssel veröffentlichten Glückwunschschreiben.

Sie seien davon überzeugt, dass es in der kommenden Legislaturperiode "neue Möglichkeiten für weitere Reformen einschließlich der Arbeit an einer neuen Verfassung in der weitest möglichen Konsultation in einem Geist des Dialogs und Kompromisses“ gebe, erklärten Barroso und Van Rompuy. Auch die Chance zur Stärkung des Vertrauens zwischen der Türkei und den EU-Mitgliedstaaten sei vorhanden. Fortschritte in diesen Bereichen sollten den Beitrittsverhandlungen neuen Schwung geben, hieß es weiter. Barroso und Van Rompuy luden Erdogan zu einem baldmöglichen Besuch nach Brüssel ein.

Von Christopher Torchia