Hamburg. Ich komme aus Schweden, aus der Hansestadt Stockholm. Besuche ich die Freie und Hansestadt Hamburg, kann nicht umhin, die historischen Verbindungen zwischen uns anzusprechen – denn die Wege unserer Vorfahren haben sich immer wieder gekreuzt, was Auswirkungen auf unser heutiges Leben hat. Um ehrlich zu sein: Wir blicken auf eine recht stürmische Vergangenheit zurück.

Aus der Hammaburg kam Bischof Ansgar, von dem man sagt, dass er das Christentum nach Schweden brachte. Allerdings waren die Wikinger nicht so einfach von Ansgars Ideen zu überzeugen und zerstörten im Jahr 845 Teile Hamburgs.

In den Zeiten der Hanse florierten der Handel und die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Völkern. Wir waren wieder Freunde. Aber dann kehrten, wie ich leider zugeben muss, alte Gewohnheiten zurück. Und wir versuchten, ebenso wie die Dänen, Hamburg zu erobern.

Im 17. Jahrhundert waren wir etwas zivilisierter geworden; 1620 wurde der erste echte Postdienst Schwedens eingerichtet. Die Route führte von Stockholm über Markaryd nach Hamburg.

Ich könnte noch vieles aus unserer gemeinsamen Vergangenheit berichten, sollte an dieser Stelle aber lieber abbrechen, da ich sonst nie in der Gegenwart ankäme, die ja der Grund für Ihre Einladung ist und dafür, dass ich heute hier zu Ihnen spreche.

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Ja, die Welt hat sich seit den Zeiten der Hanse verändert. Und sie verändert sich noch. Heute vielleicht schneller als jemals zuvor.

In der globalisierten Welt von heute wirken sich Entscheidungen, die in anderen Teilen der Welt getroffen werden, auch auf uns aus, und das häufig auf eine Art und Weise, die nur schwer vorherzusehen ist. Wir leben in einer Welt, in der Informationen, Wissen, Geld – und Menschen – wie nie zuvor in der Geschichte in Bewegung sind, interagieren und Grenzen überqueren.

Hinzu kommt, dass wir gerade die Entstehung einer multipolaren Weltordnung erleben. Es gibt heute nicht mehr die eine Supermacht, die das Weltgeschehen dominiert.

Das Wachstum in den Entwicklungsländern stieg 2010 um 7 %. Das ist doppelt so viel wie in den Ländern mit hohem Einkommen. Es gibt sogar Schätzungen, dass das Wachstum in der Europäischen Union in diesem Jahr nur 1,7 % betragen wird.

In den vergangenen fünf Jahren waren Länder, die nicht zur OECD gehören, für zwei Drittel des globalen Wachstums verantwortlich. Das heißt, dass die Erholung von der Finanzkrise von Schwellen- und Entwicklungsländern angeführt wurde.

Und während wir diese globalen Wachstumstrends untersuchen, finden andere grundlegende Veränderungen statt:

Für dieses Jahr ist zu erwarten, dass Chinas Warenproduktion die der Vereinigten Staaten übersteigt. Was bedeutet, dass die USA auf den zweiten Platz zurückfallen, nachdem sie mehr als 100 Jahre lang der führende Produzent der Welt waren.

Dies ist eine grundstürzende Veränderung. Für China jedoch, das bereits die führende Exportnation der Welt ist, bedeutet dies nur einen weiteren Schritt. So hat es Japan im vergangenen Jahr hinter sich gelassen und verfügt nun nach den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union über das dritthöchste BIP der Welt.

Aber bei der Verschiebung der Weltwirtschaft geht es nicht nur um China oder Asien. Wir sehen überall auf der Welt Schwellenländer mit raschem wirtschaftlichem Wachstum – in Lateinamerika, Teilen des mittleren Ostens und auch in Afrika. So hat sich die Produktion Schwarzafrikas in 2010 um schätzungsweise 4,7 % erhöht.

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Wenn wir uns diese globalen Trends ansehen, müssen wir Europäer uns folgende Frage stellen: In welche Richtung bewegt sich Europa? Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Europäische Union das globale Wirtschaftsgeschehen nicht mehr anführt, dass wir unseren Wettbewerbsvorteil gegenüber schnell wachsenden Volkswirtschaften verlieren.

Sehen wir der Wahrheit ins Auge: Europa gerät ins Hintertreffen. Der Großteil der europäischen Wirtschaft leidet unter schwachem Wachstum, niedriger Produktivität und einer hohen strukturellen Arbeitslosigkeit. Er leidet unter unzureichender Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, und ein großer Teil der Arbeitskräfte agiert entweder außerhalb des Arbeitsmarktes oder besitzt nur überholte Kenntnisse oder beides.

Vor diesem Hintergrund war die Botschaft der Reflexionsgruppe zur Zukunft der EU unter Leitung von Felipe González keine echte Überraschung: „Die Wahl, vor der die EU steht, ist klar: Reform oder Niedergang.“ Und die Zeit wird knapp.

Die Gruppe hat außerdem einige Bereiche benannt, in denen dringend gehandelt werden muss. Ich möchte drei dieser Bereiche herausstellen:

- Erneuerung des wirtschaftlichen und sozialen Modells Europas

- Investition in Bildung, Forschung und Innovation

- Bewältigung der demografischen Herausforderung

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Heute möchte ich die schwedische Perspektive hinsichtlich dieser Herausforderungen darstellen. Natürlich gibt es kein Patentrezept. Jedes Land hat seine eigene Geschichte und seine eigenen Bedingungen, die besondere Aufmerksamkeit und besondere Maßnahmen erfordern. Ich werde die Entscheidung Ihnen überlassen, ob die oft schmerzlichen Lehren, die wir ziehen mussten, auch anderswo von Nutzen sein können.

Die Erfahrung, die Schweden gemacht hat, ist das Ergebnis von Reformen, die in den 1990er-Jahren und in jüngster Zeit durchgeführt wurden. Ich glaube, dass heute infolge dieser Reformen ein neues Bild von Schweden entsteht.

Wir entwickeln uns von einer Gesellschaft mit hohen Steuern zu einer Gesellschaft, die Arbeit und Unternehmergeist fördert. Schritt für Schritt stärken wir die Freiheit des Einzelnen und die Entscheidungsfreiheit. Wir können ein großes wirtschaftliches Wachstum aufweisen und haben große Ambitionen in den Bereichen Wohlfahrt, Beschäftigung, Wissen, Innovation und Umweltbewusstsein.

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Ein wesentlicher Grund für unsere heutige starke Position ist, dass wir aus den 1990er-Jahren unsere Lehren gezogen haben.

Zwischen 1990 und 1993 wurde Schweden von einer schweren Rezession gebeutelt. Das BIP nahm 3 Jahre in Folge ab. Die Beschäftigung sank und die Arbeitslosenrate stieg auf 8 %. Auch die Staatsfinanzen wurden stark in Mitleidenschaft gezogen und wiesen über mehrere Jahre hinweg ein Defizit von um die 10 % auf. Die Verschuldung wuchs von ca. 45 % des BIP auf fast 80 %.

Die Rezession war das Ergebnis jahrelangen Missmanagements. Während eines Zeitraums, den man als Schwedens verrücktes Vierteljahrhundert beschreiben könnte, wurden Arbeitsanreize durch starke Steuererhöhungen und bedeutende Ausweitungen von Subventionen und Sozialleistungen untergraben. In Kombination mit anderen Faktoren, wie einem versagenden Bildungssystem, führte dies zu einem Beschäftigungsrückgang und zunehmender sozialer Ausgrenzung.

Schweden versuchte auch, die zunehmende internationale Konkurrenz durch Subventionen, sofortige Abwertung und eine nachlässige Kontrolle der Inflation zu bewältigen. Doch diese Strategien hatten langfristig nur ein Ergebnis – sie untergruben die Staatsfinanzen und machten unsere Wirtschaft extrem angreifbar.

Anfang der 1990er-Jahre mussten wir uns den Konsequenzen stellen. Es waren harte Zeiten, eine extrem schwierige Situation für Schweden, jedoch auch eine, die uns zwang, eine Reihe langfristig wirksamer Reformen umzusetzen.

Das Haushaltsverfahren wurde reformiert. Für die Inflation und die Staatsfinanzen wurden klare Ziele definiert. Der schwedischen Zentralbank wurde Unabhängigkeit garantiert, was zur Stärkung der Geldpolitik beitrug. Das Rentensystem wurde reformiert und es wurde eine Steuerreform implementiert, die die schlechtesten Aspekte des schwedischen Steuersystems berichtigte.

Unter anderem wurde auch die Legislaturperiode von drei auf vier Jahre verlängert und Schweden wurde Mitglied der Europäischen Union. Anfang der 1990er-Jahre implementierte die Regierung darüber hinaus ein Privatisierungsprogramm und liberalisierte wichtige Märkte in Schweden.

All diese Reformen waren sehr wichtig, um uns aus der damaligen Situation zu befreien. Aber die Lehren aus den 1990er-Jahren waren und sind einfach nicht genug. Die damaligen Entwicklungen können die heutige Situation Schwedens nicht vollständig erklären. Sie erklären nicht, warum wir dieses Mal bei der Bewältigung der Krise erfolgreich waren.

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Wie ich bereits erwähnte, gab es in Schweden seit langem das Problem der zunehmenden sozialen Ausgrenzung. Dies war aus den offiziellen Zahlen zur Arbeitslosigkeit nicht ersichtlich. Wenn man jedoch die Zahl der Krankgeschriebenen, der Vorruheständler und der anderen Empfänger von Sozialleistungen addierte, kam man zu dem Schluss, dass sich jeder fünfte erwerbsfähige Schwede außerhalb des Arbeitsmarktes befand.

Jeder fünfte erwerbsfähige Schwede. Mehr als eine Million Menschen. Außerhalb des Arbeitsmarktes. Finanziert durch Sozialleistungen. So stellte sich die Situation dar, als meine Regierung im Jahre 2006 ins Amt kam.

Ich glaube, dass man Probleme nur an der Wurzel lösen kann. Nur die Symptome zu behandeln, wird nicht helfen. Und angesichts sozialer Isolierung und abnehmender Beschäftigungszahlen muss man bereit sein, langfristig zu denken.

Aus diesem Grunde haben wir das Prinzip „work first“ eingeführt.

Genauer bedeutet dies: Wir möchten, dass jeder eine Beschäftigung finden kann, die zu seiner oder ihrer Arbeitsfähigkeit passt. Es muss in Schweden lohnender sein, zu arbeiten, es muss in Schweden leichter und billiger sein, Menschen zu beschäftigen, und es müssen in Schweden mehr Unternehmen gegründet werden, Bestand haben und wachsen. Dies ist kurz gesagt das, worum es beim Prinzip „work first“ geht.

Entsprechend haben wir die Einkommensteuer schrittweise gesenkt und eine Steuergutschrift für arbeitende Gering- und Mittelverdiener eingeführt mit der Folge, dass z. B. eine Hilfsschwester bisher jedes Jahr Steuergutschriften in Höhe eines zusätzlichen Monatsgehalts erhalten hat. 2011 wird die Gesamtsenkung der Einkommensteuer 2 % des BIP betragen.

Außerdem haben wir Bedingungen für das Führen von Unternehmen und die Beschäftigung von Mitarbeitern verbessert. Unser Ausgangspunkt war dabei der Wert des freien Unternehmertums. Wir haben Arbeitgeber mittels spezieller Steuererleichterungen dazu ermutigt, Menschen einzustellen, die nur über eine geringe oder gar keine Verbindung zum Arbeitsmarkt verfügten. Wir haben die Bürokratie abgebaut und auch private Unternehmen im Bereich der sozialen Versorgung gefördert.

Und, was vielleicht noch wichtiger ist, wir haben die Arbeitslosenversicherungs- und Krankenversicherungssysteme reformiert. Wir haben strengere Anforderungen implementiert, die Leistungsniveaus neu angepasst und klarere Ziele definiert. Wir haben die Passivität hinter uns gelassen und den Schwerpunkt mehr auf Coaching, Arbeitsvermittlungsprogramme und Berufsschulungen verlagert.

Größtenteils dank des Prinzips „work first“ ist es uns gelungen, ein solides Fundament zu schaffen.

Daher konnten wir dem aktuellen Abschwung einen historisch hohen Beschäftigungsgrad entgegensetzen. Der Krankenstand halbierte sich. Und die Zahl der Vorruheständler war erstmals seit 35 Jahren rückläufig.

Wir konnten eine gestiegene Zahl geleisteter Arbeitsstunden und eine geringere Arbeitslosigkeit aufweisen sowie höhere Steuereinnahmen und einen geringeren Druck auf die Sozialprogramme.

Und trotz der Krise sind wir unserem Prinzip „work first“ treu geblieben. Insgesamt ging es bei unserem Krisenmanagement nicht um neue Strategien, sondern vielmehr darum, die Politik zu stärken, die wir sowohl kurz- wie langfristig als vorteilhaft für Schweden ansahen.

Und das Ergebnis? Die Beschäftigung liegt heute über dem Stand vor der Finanzkrise. Und Schweden kann die zweitschnellste Abnahme der Arbeitslosigkeit in der EU verzeichnen.

Bevor ich fortfahre, möchte ich noch einen weiteren wichtigen Aspekt der schwedischen Gesellschaft erwähnen, der mit Arbeit und Wachstum zu tun hat, nämlich die Gleichstellung der Geschlechter.

Schweden zieht großen Vorteil aus seiner Gesellschaft, in der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen herrscht. Gute Kinderbetreuungsangebote und Vorschulen haben es Frauen und Männern ermöglicht, auf gleichberechtigtere Weise am Arbeitsmarkt teilzuhaben. Dies führt nicht nur zu größerer individueller Freiheit, sondern auch zu mehr Wachstum und Entwicklung.

Natürlich muss noch mehr getan werden und es wird auch mehr getan, um Frauen und Männern gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen. Auch in anderen europäischen Ländern bleibt noch viel zu tun; denn sonst werden wir das Wachstumspotenzial, über das wir tatsächlich verfügen, nicht ausschöpfen können.

Wir müssen uns den Fakten stellen. Heute liegt die Beschäftigungsrate von Frauen in der EU bei 51,7 %, von Männern bei 63,9 %. Wenn die Beschäftigungsrate von Frauen und Männern in der EU gleich hoch wäre, könnte die mögliche Wachstumssteigerung zwischen ca. 25 und 30 % liegen.

Es ist offensichtlich. Wir können nicht über die Erneuerung des wirtschaftlichen und sozialen Modells Europas sprechen und das Problem der Gleichstellung der Geschlechter ignorieren.

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Nun möchte ich mich der zweiten Herausforderung für Europa zuwenden, die im Bericht der Reflexionsgruppe genannt wird: Bildung, Innovation und Forschung.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Investitionen in diesen Bereichen von grundlegender Bedeutung für die Zukunft eines Landes sind. Die Basis für all dies liegt in der Entscheidungsfreiheit des Individuums, aber auch in einem hochwertigen Bildungssystem. Bildung ermöglicht Gleichheit und Entwicklung und eröffnet jedem Individuum die Chance, an der Gesellschaft teilzuhaben und einen Beitrag für sie zu leisten.

Meine Regierung bringt derzeit einige Reformen auf den Weg, die das Bildungssystem in Schweden stärken werden.

In diesem Jahr wird ein neues Benotungssystem eingeführt. Wir führen ein klareres wissensbasiertes Schul-Curriculum sowie ein neues Vorschul-Curriculum mit mehr Bildungsinhalten ein.

Um Lehrer bei ihrer Arbeit zu unterstützen, wird derzeit ein Lehrer-Paket implementiert des Inhalts: „Boost for Teachers“, stärkere Bildungsführung, Weiterbildung und Forschungstools.

Es wird mehr Unterrichtsstunden in der Schule geben und der Schwerpunkt wird mehr auf Mathematik, Technologie und Wissenschaft liegen.

Außerdem tätigen wir bedeutende Investitionen in den Bereichen Forschung und Entwicklung. Öffentliche und private Investitionen in Schweden machen heute fast 4 % des BIP aus, was laut OECD-Statistiken nur von Israel übertroffen wird. Damit steht Schweden auch im Bereich Innovation ganz oben auf dem Scoreboard der Europäischen Kommission.

Letzten Endes ist ein günstiges Klima für Forschung und Innovation das Ergebnis einer dynamischen Gesellschaft, die neuen Ideen gegenüber offen ist. Wir sind auf eine Offenheit gegenüber der Welt angewiesen, damit wir neues Wissen, neue Einflüsse und Impulse aufnehmen, aber auch unsere eigenen Innovationen verbreiten können. Geschlossene Grenzen, Protektionismus und Angst vor anderen Kulturen sind einfach nicht der richtige Weg.

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Wenden wir uns jetzt der demografischen Herausforderung zu.

Wenn wir die Entwicklungen vom historischen Standpunkt aus betrachten, ist diese Herausforderung sogar noch offensichtlicher.

Vor fast 100 Jahren, im Jahre 1913, wurde in Schweden ein Rentensystem eingeführt und erstmals ein Rentenalter festgelegt. Das Alter, ab dem man eine Rente erhielt, wurde auf 67 Jahre festgelegt. Zu dieser Zeit betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in Schweden 56 Jahre.

Es ist leicht zu sehen, dass die Absicht nicht darin bestand, jedem die Vorteile des Rentnerdaseins zu ermöglichen. Es wurde erwartet, dass man arbeitete, bis man starb. Für die wenigen aber, die auch in einem höheren Alter noch am Leben waren, gab es ein Rentensystem.

Heute erleben wir genau die gegenteilige Situation: In unserem Teil der Welt leben wir immer länger. Die meisten von uns werden wahrscheinlich noch ihren 100. Geburtstag feiern – und vielleicht noch weitere. Dies ist eine fantastische Entwicklung.

Es gibt nur ein Problem. Gleichzeitig mit der Zunahme der Rentner sinkt die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Und während die Zahl der Arbeitenden weiter abnimmt, laufen wir Gefahr, uns die Sozialleistungen, die wir erwarten und als selbstverständlich ansehen, nicht mehr leisten zu können.

Ich glaube nicht, dass eine Anhebung des Rentenalters auf 90 Jahre eine populäre Lösung dieses Problems wäre. Wir müssen mehr Leute dazu ermutigen, im Alter länger zu arbeiten und in einem früheren Alter mit der Erwerbstätigkeit zu beginnen.

Der letztere Aspekt wird zum Teil mit dem Prinzip „work first“ und der Förderung einer qualifizierten Bildung angegangen, während der erste einen anderen Ansatz erfordert.

Natürlich ist es von wesentlicher Bedeutung, durch Reformen den Weg aus dem Umlagesystem zu finden. Schweden hat dies bereits in den 1990er-Jahren getan und ein System eingeführt, in dem die Renten von der Zahl der gearbeiteten Jahre und den Einnahmen abhängen. Dies stellt einen bedeutenden Anreiz zu arbeiten dar – und auch länger zu arbeiten.

Zusätzlich haben wir besondere Steuergutschriften für Erwerbstätige eingeführt, die das Rentenalter erreichen, aber weiterarbeiten. Sie erhalten tatsächlich eine doppelte Steuergutschrift für Erwerbstätige. Gleichzeitig kommen Arbeitgeber, die Personen einstellen, die 65 Jahre alt sind, in den Genuss spezieller Steuererleichterungen. Außerdem haben wir ein flexibles Rentenalter eingeführt, das die Arbeitnehmer berechtigt, bis zum 67. Lebensjahr zu arbeiten. Derzeit diskutieren wir darüber, dieses Alter auf 69 Jahre anzuheben.

Infolge dieser Reformen sind derzeit 12,5 % der Schweden zwischen 65 und 74 Jahren weiter erwerbstätig. Und die Tendenz ist steigend.

Es muss noch viel getan werden, doch wir haben damit begonnen, das Problem des demografischen Wandels anzupacken, indem wir Arbeitsanreize schaffen und ältere Menschen eher als Aktivposten denn als Last ansehen. Wir haben uns entschlossen, diese Herausforderungen durch das Prinzip „work first“ zu meistern und nicht durch das Infragestellen der Sozialdienstleistungen oder die Einführung von Versicherungslösungen für Gesundheitswesen und Altenpflege.

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Das Wirtschafts- und Sozialmodell. Bildung, Forschung und Innovation. Die Herausforderung des demografischen Wandels. Dies sind wichtige Themen für Europa und unsere Gesellschaften. Sie werden jedoch schnell an Bedeutung verlieren, wenn die Staatsfinanzen nicht in Ordnung sind. Dies bringt mich zur vielleicht elementarsten Botschaft.

Gesunde Staatsfinanzen sind und bleiben eine grundlegende Voraussetzung für eine langfristige, nachhaltige Wirtschaftspolitik. Wir haben klargemacht, dass wir diesem Grundsatz in guten wie in schlechten Zeiten treu bleiben werden. Und hierfür gibt es viele gute Gründe.

Eine Steuerpolitik, die nicht auf lange Sicht nachhaltig ist, führt zu Verschuldung, die wiederum eine Bedrohung für das Wachstum, die soziale Versorgung und die Beschäftigung darstellt. Eine Steuerpolitik, die nicht auf lange Sicht nachhaltig ist, wirkt sich auf die gesamte Gesellschaft aus. Am härtesten trifft es jedoch diejenigen, die in ihrem Alltag am stärksten auf Sicherheit und soziale Versorgung angewiesen sind.

Das ist immer so. Und in einer kleinen und offenen Volkswirtschaft umso mehr.

Man kann Schweden nicht mit den USA vergleichen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass unsere Größe uns dabei hilft, finanzielle Instabilität, Defizite oder Staatsschulden zu bewältigen. Wenn wir diesen Umstand ignorieren, werden wir schnell von den Finanzmärkten bestraft, und zwar schmerzhaft. Daher müssen wir dafür sorgen, dass unsere Staatsfinanzen stabil und in Ordnung sind.

Und wenn wir hierbei erfolgreich sind, werden wir nicht nur in der Lage sein, Krisen zu bewältigen und uns Reformen leisten zu können – wir werden auch ein für Investoren und Geschäftspartner gleichermaßen attraktives Land sein.

Aus diesem Grunde haben wir 2006, als meine Regierung das Amt übernahm, ganz klar erklärt, dass wir solide Staatsfinanzen und eine nachhaltige Wirtschaftspolitik zu einer unserer wichtigsten Prioritäten machen würden.

In den guten Zeiten haben wir ein Plus in den Staatsfinanzen aufrechterhalten und uns daran gemacht, die Staatsschulden zu tilgen. So haben wir Schweden stark gemacht für schlechte Zeiten. Und wir haben damit begonnen, Schweden auf langfristig auftretende Probleme wie eine alternde Bevölkerung vorzubereiten, und konnten außerdem in die Zukunft investieren.

Als die Finanzkrise zuschlug, waren wir dank dieser Politik der Verantwortlichkeit in einer wesentlich stärkeren Position, vielleicht einer Position, die so stark war wie nie zuvor.

Während der gesamten Krise haben wir an dieser Politik festgehalten und gesagt: „Wenn diese Krise dadurch verursacht wurde, dass die Menschen zu viel Schulden gemacht haben, kann die Lösung nicht darin bestehen, dass Regierungen das Gleiche tun.“

Wir haben den lauten Forderungen nach öffentlichen Ausgaben kein Gehör geschenkt. Wir haben die Menschen durch aktive Maßnahmen unterstützt, anstatt die Industrie durch Subventionen zu stützen oder Banken und Finanzinstitute durch Bereitstellung von Geldern, die nicht an klare Bedingungen geknüpft waren. Wir haben weder Protektionismus akzeptiert noch Steuergelder ausgegeben, um Unternehmen zu retten, die nicht wettbewerbsfähig waren. Wir haben erklärt: „Wenn das Schiff sinkt, sollte unsere wichtigste Sorge den Seeleuten gelten – nicht dem Schiff.“

Das Ergebnis war, dass Schwedens Staatsschulden Ende letzten Jahres geringer waren als 2006. Sie sanken von 45 % des BIP auf ca. 39 %.

Ich sehe dies noch immer als eine der wichtigsten Entscheidungen für den Umgang mit der Krise an. Wenn wir uns von diesem verantwortungsvollen Ansatz abgewendet hätten, hätten wir uns am Ende in einer gänzlich anderen Situation wiedergefunden.

Solide Staatsfinanzen. Wenn Europa die Notwendigkeit solider Staatsfinanzen nicht ernstlich berücksichtigt, werden wir in den kommenden Jahren keine Reformen für die Zukunft sehen. Oder auch nur Gespräche über die Zukunft. Stattdessen werden wir uns mit Einschnitten im sozialen Bereich und steigenden Steuern beschäftigen müssen – also mit einer Situation, die wir alle entschlossen vermeiden sollten.

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Lassen Sie mich das Gesagte zusammenfassen.

Europa befindet sich an einem Scheideweg. Es kann sich entschließen, die erforderlichen Reformen zu implementieren, oder einen Niedergang des Lebensstandards hinnehmen.

Wir alle wissen, was zu tun ist. Wir haben die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Wir haben die Lissabon-Strategie, die nun von der Europa-2020-Strategie abgelöst wird. Als Antwort auf die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise haben wir das Europäische Semester und die Annual Growth Strategy. Und wir haben einen Binnenmarkt, dessen Potenzial noch nicht ausgeschöpft ist.

Wenn wir sämtliche Ziele, die wir uns bereits gesetzt haben, umsetzen würden, wäre Europa Spitzenreiter in Sachen Wettbewerbsfähigkeit und der Star des wirtschaftlichen Wachstums. Aber was zählt, ist nicht, Ziele zu formulieren – nur ihre Umsetzung kann zu echten Ergebnissen führen.

Und hier gibt es keine Abkürzungen. Es ist nun an jedem einzelnen Mitgliedsstaat, die erforderlichen Reformen auf nationaler Ebene durchzuführen. Selbst wenn es wehtut. Selbst wenn sich die positiven Effekte erst auf lange Sicht einstellen. Denn es gibt keine Alternativen. Und wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich Reformen schneller auszahlen, als man anfangs erwartet.

Nur durch Reformen wird die Europäische Union in der Lage sein, das Wachstum und die Beschäftigung anzukurbeln. Soziale Ausgrenzung und Armut zu bekämpfen. Und es den Menschen ermöglichen, sich ein besseres Leben aufzubauen.

Ich glaube, dass mit den richtigen Werkzeugen jedes Individuum die Fähigkeit hat, etwas ganz Besonderes zu bewirken. Und dass die Politik dazu dienen sollte, genau das zu ermöglichen. Freiheit des Einzelnen. In diesen drei Wörtern liegt die beste Basis für Entwicklung und Wachstum in jeder Gesellschaft. Das gilt auch für Europa.

Und ich gehe davon aus, dass Europa sich der Herausforderung stellen wird. Das hat es bisher immer getan. Wir müssen auf das schauen, was die EU bisher erreicht hat – sie hat den Menschen Möglichkeiten eröffnet, indem sie den größten Binnenmarkt der Welt geschaffen, die Union von 6 auf 27 Mitgliedsstaaten erweitert und eine gemeinsame Währung angenommen hat. Die Geschichte der Europäischen Union ist ein lebendiges Beispiel für einen Ausspruch des ehemaligen Herausgebers des Economists, Walter Bagehot:

„Das größte Vergnügen im Leben besteht darin, das zu tun, von dem die Leute sagen, du könntest es nicht.“

Vielen Dank