Der Amoklauf von Jared L. mit sechs Todesopfern schreckt Washingtons Politiker auf. Selbstkritische Klagen über Niedergang der Streitkultur.

Washington. Das politische Getöse in Washington ist verstummt. An seine Stelle trat zumindest für den Moment bestürztes Innehalten. Nach dem blutigen Attentat auf die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords in Tucson ist Amerikas politische Klasse schockiert – über die Gewalttat, über sich selbst, über den Niedergang der politischen Kultur, die immer mehr von Angstmache und gegenseitiger Dämonisierung geprägt ist. Unter die Bestürzung mischt sich Selbstkritik und Scham über ein politisches Klima, in dem die Stimmen der Vernunft kaum mehr eine Chance gegen radikale Parolen haben.

In den Stunden und Tagen nach dem Attentat reden Politiker in Washington viel von „soul searching“, der „Seelensuche“. Der amerikanische Begriff steht für die kritische Selbstüberprüfung in Reaktion auf Fehlentwicklungen und das schmerzhafte Eingeständnis kollektiven Versagens. Den Kongressabgeordneten wird für die Seelensuche Zeit gegeben: Strittige Debatten im Plenum sind bis auf weiteres vertagt – vor allem das für Mittwoch geplante Votum über die Gesundheitsreform. Stattdessen soll es eine Gedenkveranstaltung für die Opfer geben und eine gemeinsame Fraktionssitzung von Demokraten und Republikanern.

Der Schock über das Attentat kennt keine Parteigrenzen, er schweißt politische Gegner zumindest für den Augenblick zusammen. „Ich habe gesehen, wie sich Abgeordnete unterschiedlicher Parteien in den Gängen umarmt haben“, berichtete der demokratische Abgeordnete Raul Grijalva im Sender NBC. Derlei Gesten sind in der polarisierten Stimmung in den USA, in der politische Gegnerschaft in der Regel mit persönlicher Animosität einhergeht, sehr ungewöhnlich.

Grijalva hofft, dass das Entsetzen über den Anschlag zu einer Mäßigung der politischen Kultur in Washington beiträgt: „Wer dazu beigetragen hat, dieses Monster zu füttern, sollte zurückstecken und einsehen, dass damit unsere Form der Regierung gefährdet wird.“

Mit „Monster“ meint der Abgeordnete eine politische Kultur, in der jeder Streit gleich als ideologisch aufgeladener „Kulturrieg“ ausgefochten wird, in dem sich Politiker gegenseitig dämonisieren, in der politische Kompromisse als Verrat verunglimpft werden, in dem ein besinnungsloser Meinungsstrom im Internet und in ideologisch aufgeladenen Talksendungen in Radio und TV für viele Bürger die Grenze zwischen wahr und falsch verschwimmen lässt und das Gefühl nährt, das Land befinde sich auf dem Weg in den Abgrund.

Bei vielen Abgeordneten gehen wüste Drohungen ein. „Meine Kollegen sind besorgt über das politische Klima, in dem sie operieren“, sagte der demokratische Fraktionsgeschäftsführer Steny Hoyer im Sender CBS. „In den letzten zwei oder drei Jahren war die Atmosphäre viel wütender und konfliktfreudiger als wir das bislang kannten.“ Es ist bezeichnend für das Klima, dass nach dem Attentat mehrere Abgeordnete ankündigten, künftig bei öffentlichen Auftritten verdeckt Waffen zu tragen. „Ich weiß nun, dass ich meine Waffe dabei haben muss“, sagte der Demokrat Heath Shuler dem Onlinemagazin „Politico“.

Besonderen Zorn der Demokraten zog die republikanische Politprominente Sarah Palin auf sich. Ihr wird vorgeworfen, sich mit aufwiegelnden Parolen auf Kosten der politischen Kultur zu profilieren. Der demokratische Senator Richard Durbin wies auf eine von Palins Parolen hin: „Nicht nachgeben – nachladen!“. Dies könne als Aufforderung zu Gewalt und Selbstjustiz verstanden werde, sagte Durbin auf CNN: „So etwas führt zu der vergifteten Rhetorik, die bei instabilen Menschen den Glauben wecken kann, dies sei ein akzeptables Vorgehen.“

Ob sich der Attentäter von Tucson, der 22-jährige Jared Lee L., von politischen Brandrednern der Rechten hat leiten lassen, war zunächst unklar. Aus seinen Internetaufzeichungen geht zumindest hervor, dass er einen Teil ihres Gedankenguts teilte: den Hass auf die Regierung, das Gefühl des Niedergangs.