Anna Politkowskaja, Banker Alexander Plochin − nur zwei von bis zu 800 Opfern von Auftragsmördern in diesem Jahr.

Moskau. Anja, wie Anna Politkowskaja von ihren Freunden genannt wurde, war kaum unter der Erde, da schlug in Moskau erneut ein Auftragskiller zu. In der Nacht zu Mittwoch fuhr er mit dem Lift in die 15. Etage des Hauses Nr. 10 in der Kolomensker Uferstraße, verließ den Fahrstuhl und wartete. Die Uhr ging auf Mitternacht.Nur zehn, fünfzehn Minuten später, so sagen Zeugen später, kam das Opfer. Dessen Ankunft hatte vermutlich ein Helfershelfer dem Mörder per Handy mitgeteilt. Der 58-jährige Alexander Plochin hatte einen harten Arbeitstag in der Wneschtorgbank-24 im Moskauer Stadtteil Tschertanowo hinter sich. Hier war er seit dem Frühjahr als Direktor beschäftigt. Langsam rumpelte der Lift in die 15. Etage,woPlochin zu Hause war. Er sollte seine Wohnung nicht mehr erreichen, er war chancenlos. Als er die Fahr- Killer ab − Kopfschuss. Die Kriminalpolizei fand später eine Geschosshülse, aber keine Waffe. Und sie tappt im Dunkeln. Das Einzige, was den Ermittlern klar ist: Es handelt sich wieder um einen Auftragsmord, den vierten an einer bedeutenden öffentlichen Person binnen vier Wochen.

Bereits am 13. September musste die Kripo ausrücken, um in einem weiteren Bankiers-Fall zu ermitteln. Tatort: die Sportanlagen von Spartak Moskau. Der 41-jährige Andrej Koslow, erster Vizepräsident der russischen Zentralbank, hatte wie jeden Mittwoch seinem Hobby gefrönt: Mit Freunden spielte er Fußball. Nach dem Duschen und Ankleiden trat Koslow nichts ahnend auf die Straße und ging zu seinem schwarzen S-Klasse-Mercedes. Unvermittelt brachen zwei Männer aus einem nahen Gebüsch und eröffneten das Feuer. Koslows Fahrer war sofort tot, der Banker überlebte zunächst, konnte dann aber selbst durch eine Notoperation nicht mehr gerettet werden. Der Schock über die Ermordung des bis dahin höchstrangigen russischen Staatsbeamten, durch dessen Tätigkeit Dutzende Banken wegen krimineller Machenschaften ihre Lizenz verloren hatten, war kaum verarbeitet, dawurde Russland erneut erschüttert: Anna Politkowskaja, die streitbare Journalistin und Putin-Gegnerin, wurde am helllichten Tag in ihrem Hausflur erschossen. Und zwei Wochen zuvor war der Chefingenieur einer sibirischen Tochtergesellschaft des Ölkonzerns BP, Enwer Siganschin, in der Sauna niedergestreckt worden. Entsetzt fragen sich die Menschen: Was ist los in Russland? Warum mussten diese Menschen sterben?

Garegin Tossunjan versuchte amMittwoch, Schaden zumindest von den Banken fernzuhalten, und Spekulationen über eventuelle Verteilungskämpfe unter den Geldinstituten im Keim zu ersticken: "Die kaltblütige Hinrichtung Plochins kurz nach der Ermordung Koslows könnte wohl diesen und jenen zu der Ansicht verleiten, es handele sich um die Folgen einer Umverteilung innerhalb des Bankensystems, aber dem ist nicht so", erklärte der Präsident der Assoziation russischer Banken. Die Gründe lägen in der Kriminalisierung der Gesellschaft. Könnte sein, denn Experten des russischen Innenministeriums schätzen, dass allein in diesem Jahr 500 bis 800 Auftragsmorde bekannt werden. Die Dunkelziffer soll dreimal so hoch sein.

Kenner der Szene sind sich indes darüber einig, dass diese Morde in aller Regel eben doch im Zusammenhang mit der Umverteilung von Eigentum und illegalen Firmenübernahmen stehen. Beim Versuch, sich ein möglichst großes Stück aus dem reichlich mit Petro-Dollars garnierten Kuchen zu schneiden,wird auf Menschenleben wenig Rücksicht genommen. Bankiers in Moskau befinden sich dabei schon lange im Visier der Killer. Plochin war seit 2000 bereits der siebte hochrangige Bankenmitarbeiter, der sein Leben einbüßte.

"Wir leben in einem Land, in dem die Mörder und diejenigen, die sie fassen sollen, praktisch auf ein und demselben Korridor zu Hause sind."

Bleich und gramerfüllt, rote Nelken in der Hand, schritt Viktor Schenderowitsch am Dienstag im Trauerzug hinter Anna Politkowskajas Sarg. Der Tod der Journalistin passt nicht in dieses Schema. Schenderowitsch, ein aus dem Fernsehen verbannter kremlkritischer Satiriker, weiß das. Er sieht in der Bluttat einen demonstrativen Mord. "Diejenigen, die das zu verantworten haben, wollten der Gesellschaft zeigen, wer der Herr im Hause ist", vermutet er. "Die zweite Botschaft war an Präsident Putin gerichtet, der diese Kräfte in den Kreml geholt hat. Sie lautet: Du bist mit uns, du kannst dich nicht von uns trennen." Aufklärungschancen? Schenderowitsch winkt ab: "Wir leben in einem Land, in dem die Mörder und diejenigen, die sie fassen sollen, praktisch auf ein und demselben Korridor zu Hause sind." Von einem politischen Mord spricht Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Zeitschrift "Russland in der globalen Politik": Das werde zur weiteren Unruhe im Lande vor dem noch nicht entschiedenen Machtwechsel beitragen. Denn noch sei die Frage ungeklärt, in welcher Form und in wessen Hände Kremlchef Putin die Macht übergeben werde. Putins Amtszeit geht im März 2008 zu Ende, das Ringenumdie Nachfolge hat längst begonnen. Lukjanow, ein sehr bedachtsamer Mann, hält es zumindest für denkbar. "Beweise dafür habe ich nicht , dass eine der im Streit liegenden Gruppierungen im Dunstkreis der Macht auf Destabilisierung setzt, um ihre Interessen durchzusetzen. In den vergangenen Wochen hatten wir eine ganze Reihe krisenhafter Erscheinungen − Pogrome in Karelien, die Xenophobie-Debatten, die Krise im Verhältnis zu Georgien. Man könnte den Fall Politkowskaja in diesen Zusammenhang stellen, auch wenn es dafür im Moment noch keine Belege gibt."