Tabu? Ein Buch und die Frage, ob Deutsche auch die Verantwortung der Alliierten am Leid der Bevölkerung benennen dürfen.

Hamburg. Ist der Umgang mit der Vergangenheit in Deutschland in ein neues Stadium getreten? Dürfen sich Deutsche bei aller Täterschaft auch als Opfer des Zweiten Weltkriegs sehen? Jahrzehntelang wurde gerade diese Frage als blanker Versuch eines zur Verharmlosung neigenden Geschichtsrevisionismus abgetan, als Absolution von den Nazi-Verbrechen, als Schlussstrichmentalität. Hitler-Deutschland hatte den Krieg begonnen, alles, was danach folgte, war Notwehr und Notwendigkeit. Deutschland und die Deutschen hatten selber Schuld an dem Leiden, das des "Führers" Größenwahn über sie gebracht hatte. So sah es das Ausland, und so lautete die offizielle deutsche Lesart.

Noch im Historikerstreit Anfang der 80er-Jahre zogen die Befürworter einer umfassenden Debatte über Kriegsverbrechen der Sowjetunion schnell den Bannstrahl des Verstoßes gegen die politische Korrektheit auf sich. Aufrechnen, so die Gegner des Historikers Ernst Nolte, relativiere die Singularität der Nazi-Verbrechen.

Nun hat erneut eine breit angelegte und teilweise verbissene Diskussion darüber begonnen, ob die Zeit reif sei, mit den Leiden der Deutschen auch die Verantwortung der Kriegsgegner zu benennen. Jüngster Auslöser dieser Debatte ist Jörg Friedrich mit seinem Werk über den britischen und amerikanischen Bombenkrieg gegen Deutschland, das bis Weihnachten schon 100 000-mal verkauft worden ist.

Vorausgegangen waren bereits Günter Grass, der "Im Krebsgang" das Leiden der Menschen auf der versenkten "Wilhelm Gustloff" (9000 Tote) erzählte, und der ZDF-Historiker Guido Knopp, der in einer Fernsehserie vom Elend der Flüchtlingstrecks (14 Millionen Opfer) berichtete. Nun analysiert Friedrich präzise die Vernichtungsstrategie Churchills gegen deutsche Städte und ihre Zivilbevölkerung (rund 600 000 Tote).

Verstößt auch Friedrich mit seinem Buch gegen ein Tabu? Die Meinungen unter deutschen und britischen Kritikern gehen über diese Frage weit auseinander. Der Schriftsteller Walter Kempowski ("Das Echolot") hält die Zuspitzung auf diese Thematik für eine "Medienblase". Friedrichs Buch sei aber wichtig, seine Quellenangaben seien "äußerst wertvoll". Martin Walser sieht in "Der Brand" ein Kriegsbuch, das zum ersten Mal "nicht darauf angewiesen ist, die Kriegführenden nach Freund und Feind zu unterscheiden".

Kritischer gehen Friedrichs Historikerkollegen mit dem Buch um. Willi Winkler urteilt, es gehe in "Der Brand" keineswegs um einen "Tabubruch", "nicht einmal um eine mannhafte Aufwallung gegen die viel befabelte politische Korrektheit". "Der Brand" beruhe auf dem "Aufrechnungsbedürfnis der ersten Nachkriegszeit". Und Hans-Ulrich Wehler beschwört sogar die Gefahr einer weiteren "Bedienung des Opferkults" in der deutschen Öffentlichkeit.

Kritisch setzen sich auch Teile der britischen Presse mit Friedrich auseinander. In der "Daily Mail" unterstellt der angesehene Militärhistoriker Corelli Barnett dem Autor, er habe sich dem "Haufen gefährlicher Revisionisten" angeschlossen, die Holocaust und Wehrmachtsverbrechen relativieren wollten. Und der "Daily Telegraph" empört sich über einen "noch nie da gewesenen Angriff auf die Kriegsführung der Alliierten".

Es gibt aber auch die andere Sichtweise. Zum Beispiel Antony Beevor, der im Sommer Furore mit einem Buch über die russischen Verbrechen an deutschen Frauen gemacht hat ("Der Untergang Berlins 1945", Bertelsmann). Er gibt als Grund für die Empörung seiner Landsleute an, sie hätten es nicht ertragen, dass Westdeutschland schon 14 Jahre nach Kriegsende Großbritannien wirtschaftlich überholt habe. Den Krieg gewonnen, aber im Frieden verloren - das habe zu einer Romantisierung ihrer Kriegshelden geführt. Und der "Guardian" schrieb: "Die Wahrheit ist, dass Großbritannien, nicht Deutschland, ein Gefangener seiner Vergangenheit ist. Die deutsche Gesellschaft ist viel ehrlicher als wir im Umgang mit der Vergangenheit, wissender und entschlossener, Lehren zu ziehen und in den Dienst der Zukunft zu stellen."

Für den Autor dürfte die ausgiebige Beschäftigung mit seinem Buch Bestätigung genug sein. Trotz aller Kritik auch aus Großbritannien sei die "Kultur der Versöhnung so weit gediehen, dass wir sogar die Wahrheit vertragen."