Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit Universitätspräsident Dieter Lenzen über (große) Themen unserer Zeit.

podcast-image

Alle zwei Wochen tauschen sich Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, und Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider in der Reihe „Wie jetzt?“ über Themen aus, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen.

Diesmal geht es um die Frage, was Corona mit oder aus der Liebe macht? Wie geht es jungen Menschen, die damit aufwachsen müssen, Kontakte zu anderen zu reduzieren und Abstände zu vergrößern? Das Gespräch können Sie sich unter www.abendblatt.de/podcast auch anhören.

Lars Haider: Das Thema, über das wir heute sprechen, war eine Idee von Ihnen, und ich finde es super. Ich habe mir die Frage, was Corona mit der Liebe macht?, auch schon gestellt. Denn wir haben ja zuletzt das Gegenteil von dem gelernt und beherzigen müssen, was Liebe ausmacht. Hendrik Streeck hat mal gesagt, wenn es nach den Virologen ginge, und nur nach den Virologen, dürften wir uns nie mehr umarmen und küssen. Dann hätten die Viren nämlich keine Chance mehr! Und seit einem Jahr geht es ja vor allem nach den Virologen …

Dieter Lenzen: Ich glaube, dass die Auswirkungen der Pandemie auf die Liebe und gerade auf das Verhalten junger Menschen schwerwiegend sein werden. Ich bin auf das Thema gekommen, weil eines meiner Enkelkinder gerade 15 Jahre alt geworden ist. Das ist so das Alter, in dem man sich als ein Geschlecht habendes Lebewesen entdeckt. Dazu gehört es, dass man den Reflex der anderen auf den eigenen Körper wahrnehmen können muss – und der fällt in einer Pandemie aus, weil Kontakte nicht oder nur begrenzt erwünscht sind. Es hat eine Generation gegeben, nämlich die, die mit dem HI-Virus aufgewachsen ist, von der wir genau wissen, wie sich diese Erfahrung auf ihr Liebesleben ausgewirkt hat. Die Ergebnisse sind teilweise bestürzend. Insbesondere junge Mädchen haben einen unbewussten Abwehrreflex aufgebaut, dass da ein Junge kommt, der gefährlich ist, wenn sie mit ihm etwas tut, was vor der Entdeckung von HIV ganz normal war. Und dieses Virus war ja nur gefährlich, wenn es zum Äußersten kam. Das ist bei Corona völlig anders, und wir müssen uns fragen, ob nach der Pandemie junge Leute wieder so unbeschwert miteinander werden umgehen können wie davor. Möglich ist auch, dass sich die Einstellung zum anderen Geschlecht fundamental ändert und sich nur auf verbale und optische Kanäle beschränkt. Ich sorge mich, dass an die Stelle der Nähe, die für junge Menschen in ihrer Entwicklung so wichtig ist, nichts anderes tritt.

Der Vergleich mit der HIV-Zeit ist passend. Denn man hat ja damals ganz anders auf Männer und Frauen geblickt, man war bei der Partnerwahl sehr vorsichtig und zurückhaltend. Mit dem großen Unterschied zur Corona-Zeit, dass es, wenn es zum Äußersten kam, eine effektive Möglichkeit gab, sich zu schützen. Die gibt es diesmal, zumindest für junge Leute, nicht, denn die werden sich auf absehbare Zeit nicht impfen lassen können. Muss man damit rechnen, dass ein Mann und eine Frau, bevor sie künftig etwas miteinander anfangen, erst mal einen PCR-Test oder Schnelltest machen? Auf HIV haben sich ja durchaus einige testen lassen, wenn sie den Partner gewechselt haben.

Lenzen: Wenn es im großen Maße üblich wird, sich auf Corona mit einem Schnelltest zu untersuchen, wäre das auch nicht mehr unromantisch, sondern selbstverständlich. Darin könnte eine bestimmte Hoffnung bestehen, dass die unmittelbare Körpererfahrung wieder herstellbar ist. Wir werden so oder so Formen finden müssen, dass die alltägliche Interaktion sicher stattfinden kann. Es kann nicht auf immer so bleiben, dass sich junge Leute nur hinter Masken begegnen.

Irgendwann müssen wir ja auch wieder zu einem Punkt kommen, an dem wir andere Menschen nicht als Bedrohung empfinden. Aber dieser Zustand hält ja jetzt schon so lange an, dass es aus meiner Sicht nicht so leicht wird, zu früher selbstverständlichen Umarmungen und Berührungen zurückzukehren. Das Händeschütteln wird zu größeren Teilen verschwinden, unsere Gesellschaft insgesamt kontaktärmer werden.

Lenzen: Soziale Rituale wie das Händeschütteln werden möglicherweise deshalb nicht wiederkommen, weil man sie leicht durch andere Formen des Begrüßens oder Zurkenntnisnehmens ersetzen kann. Das ist nicht das Problem. Aber die Begegnung mit einer Person, die man sympathisch oder mehr findet, ist ja kein Ritual. Die kommt aus dem Inneren des Wollens, man möchte die Person unbedingt haptisch erfahren, sie schmecken und berühren.

Interessanterweise war im Verlauf der zweiten Corona-Welle gerade in Hamburg die Zahl der Infektionen bei den Jüngeren ein großes Problem. Sie haben sich überproportional angesteckt, die 20- bis 29-Jährigen waren über Wochen die Gruppe mit den höchsten Fallzahlen. Soll heißen: Die müssen sich halt doch immer noch mehr getroffen haben. Haben Sie Verständnis dafür? Ich irgendwie schon, denn man ist ja wirklich nur einmal jung, und diese besonderen Jahre, etwa nach dem Schulabschluss, kommen nicht wieder.

Lenzen: Man muss differenzieren, an welcher Stelle sich eine Person im Reifungs­prozess befindet. Wir wissen ja, dass sich das Erwachsenwerden stark nach hinten verschoben hat in den vergangenen 50 bis 70 Jahren. Das heißt: Früher wurden junge Menschen mit 14 in die Arbeitswelt geschickt, heute kann man sogar im vierten Lebensjahrzehnt noch studieren. Mit anderen Worten: Wir erwarten von einem Reifungsprozess, dass er auch die Fähigkeit zum Triebaufschub enthält. Es muss möglich sein für eine gereifte Person, auch zwei, drei Jahre auf etwas zu verzichten, was schön ist.

Aber ausgerechnet in einer Phase, in der die Triebe am stärksten sind? Das ist extrem viel verlangt von jungen Menschen …

Lenzen: Ich rede jetzt auch nicht von denen, die in die Pubertät kommen, sondern von Mitt- oder Endzwanzigern. Von denen kann man erwarten, dass sie mal eine Pause einlegen. Bei den anderen muss man sehr vorsichtig und verständnisvoll sein. Wenn wir am Ende der Pandemie eine Generation hätten, die sexuell verkorkst wäre, weil sie ein ängstliches Verhältnis zum Körper der anderen entwickelt, wäre das tragisch. Das hatten wir übrigens ja in den 50er-Jahren, vor der Erfindung der Antibabypille.

Können Sie in diesem Zusammenhang verstehen, dass man trotz aller Kontaktbeschränkungen immer noch eine Person treffen durfte – alles andere wäre gerade in einer Stadt wie Hamburg, in der mehr als die Hälfte aller Haushalte von einer Person bewohnt werden, auch unmenschlich gewesen.

Lenzen: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Kommunikation ist lebenserhaltend, ohne jede Frage. Insofern war diese politische Entscheidung schon weise. Es macht aber einen großen Unterschied, ob ich eine Person treffen darf, die ich sowieso schon kenne, oder eine, die ich erst noch kennenlernen werde. Und über Letztere reden wir ja bei jungen Menschen. Die Frage war und ist, wie man jemanden in seiner Ganzheit erleben kann, den man nur sehen und mit dem man nur sprechen darf.

Ich finde, dass sich Videokonferenzen mit Freunden da inzwischen zu einer guten Möglichkeit entwickelt haben. Mir machen sie ehrlich gesagt genauso viel Spaß wie die früheren, tatsächlichen Treffen – und sie haben den Vorteil, dass man sich auch mal wieder mit Freunden in anderen Städten oder Ländern zusammensetzt. Das sind immer sehr nette Abende, bei denen mir gar nichts fehlt.

Lenzen: Sie sind ja, ich sage das mal etwas flapsig, ein Kommunikationsheini. Insofern ist es für Sie kein Kunststück, durch ein Medium, sei es nun die Zeitung oder eine Videokonferenz, verbindlich zu kommunizieren. Das ist aber ja nicht bei jedem der Fall. Wenn man so einen Beruf nicht hat, erlebt man solche Situationen vielleicht völlig anders.

Ich finde, dass sich in der Kommunikation gar nicht so viel ändert. Freunde, die früher wenig geredet haben, wenn sie auf dem Sofa neben mir saßen, tun das jetzt auch – und umgekehrt. Ich bleibe dabei: Die virtuellen Treffen mit Freunden sind weit mehr als ein Ersatz.

Lenzen: Mir geht das auch so. Aber die Schweigsamen sind vielleicht noch schweigsamer als sonst, weil sie körperlich gar nicht zu erkennen geben können, dass sie sich jetzt einbringen wollen. Das Risiko von Dominanz in solchen virtuellen Treffen ist natürlich gegeben. Soll heißen: Personen, die sowieso viel und leicht kommunizieren, sagen dann noch mehr als sonst.