Hamburg. Uni-Präsident Dieter Lenzen spricht mit Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider über Politiker, die einen Psychologen brauchen.

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Im Zwei-Wochen-Rhythmus spricht Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider in der Reihe „Wie jetzt?“ mit Dieter Lenzen, dem Präsidenten der Universität Hamburg, über Fragen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Diesmal geht es um den Frustabbau in demokratischen Staaten und um Politiker, die vielleicht erst einmal von einem Psychologen begutachtet werden sollten, bevor sie sich zur Wahl stellen.

Lars Haider: Lieber Herr Lenzen, kann so etwas wie in den USA eigentlich auch bei uns passieren? Und damit meine ich jetzt ausnahmsweise nicht die Corona-Pandemie, damit haben wir ja auf beiden Seiten des Atlantiks inzwischen fast gleich große Probleme, sondern all das, was wir an politischen Verwerfungen in den vergangenen Monaten in den USA erlebt haben – bis hin zum Sturm auf das Capitol.

Dieter Lenzen: Ich bin mir nicht mehr so sicher, dass so etwas in Deutschland unmöglich ist. Wir haben ja einen Vorgeschmack darauf bekommen, als es im August vor dem Reichstag in Berlin ein kleines Scharmützel gab. Dahinter steckt der falsche Glaube von Bürgerinnen und Bürgern, dass man als Volk nicht nur ein Demonstrationsrecht, sondern auch das Recht hat, die legitim gewählten Vertreter einfach zu überrennen. So nach dem Motto: Wir wissen es besser, wir machen das jetzt selbst hier. Das ist ein neues Phänomen. Es scheint nicht mehr nur um die Bekanntgabe einer eigenen, abweichenden Auffassung zu gehen, darum, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen, sondern die Entscheidungen allein treffen zu wollen.

Warum ist das so? Als ich die Bilder von der Erstürmung des Capitols gesehen habe, habe ich mich gefragt, ob die Leute, die plötzlich im Allerheiligsten der amerikanischen Demokratie waren, überhaupt gewusst haben, warum sie dort sind und was sie jetzt machen sollen. Das wirkte nicht revolutionär, sondern eher zufällig.

Lenzen: Ich glaube auch, dass das auf einen Teil der Menschen, die dabei mitgemacht haben, zutrifft. Aber spätestens, wenn man Türen aufbricht und Scheiben einschlägt, muss man sich fragen, warum man das macht. Soll das eine symbolische Handlung sein? Oder doch mehr? Wir haben es mit der Frage zu tun, ob die Menschen ferngesteuert, noch bei Verstand oder so von der Situation eingenommen sind, dass sie nicht wissen, was sie tun.

Ich bleibe dabei: Ich hatte nicht das Gefühl, dass da mehr hintersteckt als der Wunsch, seinen Frust rauszulassen. Das war ja nicht der Beginn einer Revolution, auch wenn der damalige Präsident Donald Trump das vielleicht gerne gehabt hätte.

Lenzen: Ja, aber der Sturm auf die Bastille war auch keine von langer Hand geplante Angelegenheit. Es kann immer passieren, dass größere Menschenmengen sich zusammenrotten und gegenseitig hochschaukeln, und plötzlich passiert etwas Unvorstellbares. Es ist eine Mischung aus Mitlaufen, Nicht-Nachdenken, aber eben auch aus dem gezielten Versuch, eine andere Situation herzustellen. Mittelfristig ist es auf jeden Fall eine Gefahr für die Demokratie, wenn Menschen es für legitim halten, ihren Frust, wie Sie es nennen, auf diese Weise zu artikulieren.

Das ist vielleicht die schlimmste Hinterlassenschaft von Donald Trump: Durch und dank ihm sieht es aus, als wäre es legitim, sich so verhalten.

Lenzen: Dieses Phänomen haben wir ja in anderen Ländern in letzter Zeit öfter erlebt. Ein Regierungschef, der auf eine legale Weise ins Amt gekommen ist, nutzt das System zu seinen Zwecken aus und missbraucht es, um im Amt zu bleiben. Schauen Sie in die Türkei oder nach Russland. Wir in Deutschland müssen langsam den Eindruck bekommen, zur kleinen Gruppe der Vorzeigedemokratien zusammenzuschrumpfen. Das Autokratische in den Ländern um uns herum wächst und wird immer mächtiger, weil es, anders als Demokratien, keine Rücksicht nehmen muss. Auch das ist eine neue Qualität.

Dass sich diese Bewegungen und Tendenzen bei uns nicht so stark durchsetzen wie anderswo, trotz der relativen Erfolge der AfD, hat mit unserer Geschichte zu tun, oder? Weil wir wissen, wohin so etwas führen kann, sind wir dafür zum Glück nicht so empfänglich.

Lenzen: Mit Sicherheit ist das ein Element, auch wenn es nicht bei jedem Bürger immer präsent sein wird. Aber wenn man sieht, was für ein fortschrittliches Demokratieverständnis die Alliierten, gerade die Amerikaner, nach Deutschland gebracht haben, und was daraus geworden ist, kann man schon sagen: Die Bundesrepublik hat dieses Demokratieverständnis weiterentwickelt. Das Grundgesetz ist vorbildlich, auch, wenn man es mit der amerikanischen Verfassung vergleicht. Mit anderen Worten: Wir sind wirklich eine Vorzeigedemokratie, mit allen Stärken, aber auch mit allen Schwächen.

Eine der Schwächen der amerikanischen Demokratie ist die Rolle des Präsidenten, der im Zweifel allein darüber entscheiden kann, ob Atomraketen abgefeuert werden. Ich zweifele daran, dass das im Sinne der Väter der amerikanischen Verfassung war. Aber sie konnten damals eben nicht voraussehen, wie mächtig ein einzelner Mensch im Jahr 2020 sein würde.

Lenzen: Die Rolle des Präsidenten, wie wir sie heute erleben, ist in einer Zeit entwickelt worden, die viel langsamer war. Man konnte nicht mal eben schnell auf einen Atomknopf drücken, auch das Tempo der Informationsverbreitung war ein völlig anderes. Niemand konnte sich vorstellen, dass der Präsident eines Tages ganz allein, quasi vom Bett aus, mehr als 80 Millionen Menschen würde erreichen und beeinflussen können, so wie es Donald Trump über Twitter gemacht hat.

Wie fanden Sie es, dass Twitter Trump kurz vor dem Ende seiner Amtszeit dann doch noch den Kanal gesperrt hat? In Deutschland wurde ja selbst das kontrovers diskutiert, Stichwort Meinungsfreiheit.

Lenzen: Wir haben ja wahrnehmen müssen, dass die Bundeskanzlerin die Sperrung des Trumpschen Twitter-Kontos kritisiert hat. Das teile ich nicht. Twitter ist ja nicht vergleichbar mit dem Hamburger Abendblatt oder einem anderen Medium, bei denen es ja so etwas wie Filter, nämlich Redaktionen, gibt, die verhindern, dass etwas kommuniziert wird, was man nicht verantworten kann. Im Grunde müsste es auch bei Twitter so eine Redaktion geben. Ich weiß, dass die Debatte sehr angestrengt geführt und es als Freiheitsmoment angenommen wird, dass jeder twittern kann, was er will. Aber wenn das für eine größere Zahl von Menschen, im Fall Donald Trumps sogar für einen größeren Teil der Welt, eine Gefahr bedeutet, muss es möglich sein, das zu verhindern. Es ist zu überlegen, ob man nicht bei allen sozialen Medien eine Art Redaktion der Nutzer braucht, die im Notfall schnell reagieren kann. Was natürlich leichter gesagt ist als getan: Denn man kann ja nicht verhindern, dass jemand etwas Verrücktes oder Kriminelles schreibt, man kann es nur nachträglich löschen.

An dem, was Sie beschreiben, sieht man auch, wie groß die Macht von Twitter und Facebook inzwischen ist. Du kannst als soziales Medium das Weltgeschehen beeinflussen, das kann im wahrsten Sinne des Wortes kriegsentscheidend sein.

Lenzen: Und eine Situation wie bei dem Sturm auf das Capitol kann sich aufschaukeln, wenn etwa ein Machthaber das, was auf den Straßen passiert, live kommentiert. Das ist gefährlich. Mir ist aber noch eine andere Frage wichtig: Wie verhindern wir eigentlich, dass psychisch anfällige oder auffällige Personen in höchste Regierungsämter kommen? Können sie Menschen führen, fallen sie aus der Rolle, werden sie schnell nervös, können sie mit Geld umgehen? Das sind alles Fragen, die bei der Besetzung eines normalen Abteilungsleiterpostens geprüft werden. Aber bei einem Politiker? Da reicht die direkte Zustimmung aus der Masse, was nicht ungefährlich sein kann. Ich wüsste als Bürger gern, wenn ich vor einer Wahl stehe, mit welchem Typus von Persönlichkeiten ich es zu tun habe. Die einzige Möglichkeit, die ich dazu habe, ist, mir aus Auftritten in Medien ein Bild davon zu machen, das aber erheblich neben der Wirklichkeit liegen kann. Ich würde zum Beispiel gern wissen, wie ein Psychologe die Persönlichkeit eines Bewerbers beurteilt. So, wie es im Berufsleben auch gemacht wird.

Da müssen wir uns ja in Deutschland bei der Bundestagswahl in diesem Jahr keine Gedanken machen, weder bei Olaf Scholz noch bei Armin Laschet, Markus Söder, Robert Habeck oder Annalena Baerbock.

Lenzen: Das stimmt. Trotzdem würde ich gern erfahren, welche der Persönlichkeiten vom Typus her am ehesten in der Lage ist, das Programm, das er oder sie artikuliert, so umzusetzen, dass es meinen Wünschen als Wähler entspricht.