Hamburg. Morgens Zirkus, abends Theater: Experte Michael Schulte-Markwort gibt Tipps. Er sagt: Die Krise setzt auch viele Ressourcen frei.

podcast-image

Kinder und Jugendliche sind durch die Corona-Pandemie, die nun schon fast ein Jahr währt, ohne Zweifel sehr belastet. Dies hat gerade vergangene Woche eine Studie von Forschern des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) noch einmal eindrucksvoll belegt.

Kinder- und Jugendpsychiater zu Gast im neuen Abendblatt-Podcast

Der bekannte Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort sieht aber auch die Chancen der Krise für die Kinder – und die Familien. „Mein Eindruck ist, dass Familien in dieser Pandemie auch sehr an ihre Ressourcen erinnert worden sind. Das darf man nicht unterschätzen“, sagt er in einer neuen Folge des Abendblatt-Podcasts „Morgens Zirkus, abends Theater“ rund um Familien und Erziehung. „Wenn eine kollektive Krise ausbricht wie ein Krieg oder ein Naturereignis, dann rücken Menschen auch zusammen. Und das ist bei vielen auch jetzt wieder so.“

Lange war Schulte-Markwort Leiter der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am UKE. Seit Kurzem ist er wissenschaftlicher Leiter und ärztlicher Direktor der Marzipanfabrik, einer privaten Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bahrenfeld. Er hat zudem eine Praxis und wird demnächst für die Oberbergkliniken in Deutschland zwei weitere Kliniken nach dem Vorbild der Marzipanfa­brik aufbauen.

Kinder haben so viel Angst wie Erwachsene Angst haben

Wie gehen Kinder mit der Angst vor Corona um? „Wichtig ist immer, dass man sich klarmacht: Kinder haben so viel Angst wie wir Erwachsenen Angst haben“, sagt Schulte-Markwort. „Das bedeutet aber auch, dass wir als Erwachsene die Verantwortung haben, uns selbst zu fragen, wie viel Angst wir haben und wie viel davon wir weitergeben – eben, um unsere Kinder zu schützen.“

Er empfiehlt Eltern, sich zunächst untereinander abzustimmen und auch dafür zu sorgen, dass sie selbst ihre Angst ausreichend im Griff haben, bevor sie mit dem Kind sprechen. In seiner Praxis, berichtet der 64-Jährige, der selbst Vater ist, sei es bei manchen Familien zunächst darum gegangen, „für Entängstigung zu sorgen“.

Schulte-Markwort: Jugendliche leiden am meisten unter Corona-Krise

Neben den ganz Kleinen, die ihre Freunde nicht mehr sehen konnten, seien es vor allem die Jugendlichen, die am meisten unter der Krise litten. „Für 16-Jährige beispielsweise ist ein Jahr eine unheimlich lange Zeit. Das ist ein Alter, in dem man sich mit seinen Freunden treffen, viel ausprobieren will. Da entsteht leicht das Gefühl, dass unheimlich viele Chancen vorbeirauschen“, so der Jugendpsychiater.

„Die Verzichtleistung ist schon wirklich groß und schmerzlich. Ich habe eine große Bewunderung gerade für diese Generation. Ich finde, die sind sehr tapfer“, sagt Schulte-Markwort. Das betrifft auch den Abiturjahrgang 2020, für den es keine Feiern, Mottowochen und Verleihungen gab, aber auch Studienanfänger, die in einen neuen Lebensabschnitt starteten und nicht einmal ihre Kommilitonen kennenlernen konnten.

"Psychische Belastung ist stärker geworden"

Doch Schulte-Markwort gibt auch ein Stück weit Entwarnung: Die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe sei weder in den Praxen noch in den Kliniken in Deutschland angestiegen. „Wir müssen nicht fürchten, dass psychische Erkrankungen im eigentlichen Sinne zugenommen haben. "Was aber stärker geworden ist, ist die psychische Belastung." Das habe die zitierte Copsy-Studie am UKE gezeigt.

Bis zu 85 Prozent der Kinder gaben dort – je nach Fragestellung – an, sie seien belastet. Ihre Lebensqualität sank, insbesondere weil sie weniger Sport machen und ihre Freunde weniger sehen konnten. Die Folge waren eine Zunahme von Stress, Erschöpfungssymptome, teilweise bis hin zu Schlafstörungen und Appetitlosigkeit. „Die Belastung von Kindern muss ernst genommen werden, aber insgesamt ist das Niveau nicht so hoch, dass wir uns große Sorgen machen müssen“, sagt Schulte-Markwort.

Die aktuellen Corona-Regeln für Hamburg im Überblick

  • Alle Regeln, die im Rahmen der Eindämmungsverordnung bis zum 10. Januar gelten sollten, werden grundsätzlich bis zum 14. Februar verlängert – ein Großteil des Einzelhandels bleibt geschlossen, bestellte Waren dürfen aber abgeholt werden. "Körpernahe Dienstleistungen" wie Friseure, Nagel-, Massage- und Tattoo-Studios dürfen nicht angeboten werden. Auch Kultur- und Freizeiteinrichtungen bleiben geschlossen, Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit bleibt verboten.
  • Kontaktregeln Angehörige eines Haushalts dürfen sich nur noch mit einer weiteren Person treffen. Ausnahmen für Kinder gibt es nicht.
  • Die Maskenpflicht wird angepasst: Stoffmasken reichen in den meisten Fällen nicht mehr aus. Stattdessen müssen medizinische Masken (mindestens OP-Masken, auch FFP2- oder KN95-Masken sind möglich) getragen werden. Bis zum 1. Februar gilt eine Übergangsphase, danach werden Verstöße mit Bußgeldern geahndet.
  • Kitas und Schulen: Die Präsenzpflicht an den Schulen bleibt aufgehoben, stattdessen soll so weit wie möglich Distanzunterricht gegeben werden. Kinder sollen – wann immer möglich – zu Hause betreut werden. Die Kitas wechseln in die "erweiterte Notbetreuung". Die privat organisierte Kinderbetreuung in Kleingruppen bleibt gestattet.
  • Arbeitgeber sind angehalten, so weit wie möglich ein Arbeiten von zu Hause aus zu ermöglichen. Zusätzlich soll eine neue Bundesverordnung Arbeitgeber dazu verpflichten, Homeoffice anzubieten, so weit das möglich ist. Betriebskantinen dürfen nur öffnen, wenn sie für den Arbeitsablauf zwingend erforderlich sind.
  • Sollte die Sieben-Tage-Inzidenz auf einen Wert über 200 steigen, müsste eine Ausgangsbeschränkung erlassen werden, die den Bewegungsradius auf 15 Kilometer rund um den Wohnort einschränkt. Wie genau diese Regel in Hamburg angewandt würde, ist noch nicht bekannt – der Senat will darüber entscheiden, sollte sich die Inzidenz dem Grenzwert annähern.
  • Senioren- und Pflegeeinrichtungen sollen mehrmals pro Woche Personal und Besucher testen. Das war in Hamburg schon verpflichtend und gilt nun bundesweit.
  • Zwei-Test-Strategie bei Reiserückkehrern aus Risikogebieten: Ein Corona-Test direkt nach der Einreise ist verpflichtend, die zehntägige Quarantäne kann frühestens fünf Tage nach der Einreise durch einen weiteren Test verkürzt werden. Die Kosten für die Tests werden nicht übernommen.

Hilfreich sei es für Familien, ihren Alltag weiterhin gut durchzutakten – nach Möglichkeit so, wie vor der Pandemie auch. Kinder brauchten eine klare Tagesstruktur ohne zu große Räume, in denen keiner weiß, was er tun soll. Viele vermissten schmerzlich die Besuche beispielsweise bei den Großeltern. „Ich könnte mir aber vorstellen, dass alle Beteiligten durch den Verzicht noch einmal mehr merken, wie wichtig sie einander sind.“

Durch coronabedingte Lücke kann vieles entstehen

Ohnehin biete die Krise Familien eine Chance: Viele hätten sich wieder auf das analoge Spielen besonnen oder schauten zusammen Filme. „Da gab es viele gemeinsame Aktivitäten, die die Kinder sehr genossen haben.“ Man könne sich zusammen Projekte vornehmen, Kekse backen oder gemeinsam kochen.

Aufgaben im Haushalt müssten dann nicht mehr Last sein, sondern könnten bedeuten: Wir machen es uns zu Hause schön. „Da gibt es vieles, das in der Lücke entstehen kann – immer vorausgesetzt, die familiären und räumlichen Verhältnisse lassen dies zu“, so Michael Schulte-Markwort.

"Abhängigkeit von Einkommen ist deutlicher geworden"

„Familien in beengten Verhältnissen hatten und haben es besonders schwer. Die Abhängigkeit vom Einkommen ist noch einmal deutlicher geworden, diese Familien wurden einmal mehr abgehängt.“ Die Vorhersagen von manchen Jugendämtern, dass die Gewalt in Familien drastisch zunehmen werde, hätten sich so aber nicht bestätigt. „Wir werden sehen, wenn die Hilfesysteme wieder ganz geöffnet sind, auf welche Zustände wir dann treffen.“

Der Experte glaubt: „Diese Generation von Kindern kann auch gestärkt aus der Krise hervorgehen. Sie bekommen ein anderes Verhältnis zu dem Leben, das wir vorher gelebt haben, ohne groß nachzudenken. Klimaschutz, Umweltschutz, Gemeinschaft, Solidarität werden wichtiger. Wenn eine Familie diese Krise miteinander überstanden hat, ist das etwas, das sie stärkt. So können neue Inseln der Gemeinsamkeit entstehen.“