Hamburg. Geigerin Patricia Kopatchinskaja gibt gleich mehrere Konzerte in der Elbphilharmonie. Wie hat sie den Corona-Lockdown erlebt?

Was macht eigentlich Patricia Kopatchinskaja? In den vergangenen Jahren war diese Geigerin immer höchsttourig unterwegs, sie hat Programme gespielt und CDs aufgenommen, die komplex und komplett anders waren. Sie hat Hör- und Spielgewohnheiten auf links gekrempelt wie keine andere Musikerin. In den vergangenen Monaten fehlte auch sie. Wie sie mit ihrer Familie in Bern durch die Corona-Zeit gekommen ist und was Spinatstrudel und Installateure damit zu tun haben

Sie hatten mir in einer Mail geschrieben, Sie seien „ins Corona-Loch gefallen“. Wie geht es Ihnen jetzt – und wie ging es Ihnen, als Sie in diesem Loch waren?

Patricia Kopatchinskaja: Ich empfand es sehr stark wie eine Art Alptraum. Man fällt irgendwo hin, wie Alice im Wunderland, dann erlebt man Dinge, wie man es sich nicht vorstellen konnte. Das kann ganz interessant sein, andererseits will man doch irgendwann raus. Mir kam das wie eine Unendlichkeit vor. Nichts mehr wusste ich noch, nicht einmal, wer ich noch bin. Es war ein totales Nirvana. Da war ich noch nie und da will ich nie mehr hin.

Was genau haben Sie in Alices Kaninchenbau erlebt?

Patricia Kopatchinskaja: Man geht so hinein in sich selbst. Ich war erschrocken. Ich weiß nicht, wer ich bin. Scheinbar habe ich mein ganzes Leben auf der Bühne verbracht, und ohne Bühne bin ich jemand, die ich noch nicht kannte. Ich muss eigentlich zum Psychiater, um herauszufinden, was passiert ist. Wirklich verrückt, wie viele Konzerte ich gespielt habe. Das war wie ein Leben im Theater, oder ein Theater im Leben. Ich bin jetzt 43 und konnte noch nicht einmal kochen!

Und wie haben Sie sich aus diesem Loch herausbekommen?

Patricia Kopatchinskaja: Habe ich nicht. Es ist ein Abgrund, das war lustig und traurig. Aber es war eigentlich auch schön. So viel Zeit habe ich noch nie mit meiner Tochter verbracht, wir haben Federball gespielt – und ich habe Spinatstrudel gelernt!

Konnten Sie üben? Oder ging das auch nicht?

Patricia Kopatchinskaja: Doch, diese Routine habe ich beibehalten. Aber das Spielen war für mich ein Riesenabenteuer, da waren verschiedene Ichs, das war so spannend. Und hier gab es mich nur einmal, und ich wusste nicht, ob ich mich so mag. Die Frage ist plötzlich sehr groß gewesen, wie ein Titan: Braucht es uns Musiker? Braucht es uns?

Ich meine: Ja. Andere denken, es ginge auch ohne.

Patricia Kopatchinskaja: Ich hatte Zeiten, da habe ich mich geschämt, dass ich nicht Installateur bin oder Friseur oder irgendwie nützlich. Ich möchte so gern nützlich sein, da erfinde ich mich immer wieder, egal, was ich mache. Aber als Musiker sitzt man zuhaus und überlegt sich: War das alles nur eine Einbildung von uns? Hundert von Konzerten in all diesen luxuriösen Sälen, mit vielen Zuschauern. Wo sind sie alle? Brauchen sie uns? Weil ich’s nicht mehr ausgehalten habe, bin ich hier in der Nähe in den Wald gegangen und habe gespielt, für die Vögel. Ich dachte, vielleicht muss ich mir auch ein Publikum erfinden. Da gibt es einen Brunnen, ganz magisch, fast mystisch, unglaubliches Licht. Und es gibt ganz viele Jogger und Waldbewohner, die kamen alle vorbei und hörten mir zu, und ich spielte ziemlich miserabel Bach. Es war eine wirklich interessante Erfahrung. Man macht, woran man glaubt, und wo man sich wiederfindet.

Wohin sind Sie in den Pausen-Wochen mit Ihrer Energie? Wenn jemand im Konzert im fünften Gang unterwegs war, dann Sie. Und nun: Mit vollem Tank in der Garage und man darf nicht raus.

Patricia Kopatchinskaja: Da müssen Sie meinen Mann fragen, wie sehr ich ihn genervt habe. Man sollte mich nicht zuhause behalten, ich beginne Dinge zu machen, an denen man sich als Ehemann nicht erfreut. Möbel bewegen, ich fange an verrückt zu werden. Ich bin nicht für zuhause gemacht, ich bin ein Wanderer. Ich weiß nicht, was ich bin. Auf der Bühne... dort kann ich träumen. Man muss sich schon etwas sehr Unmenschliches darunter vorstellen, wie wir von einem Kontinent auf den anderen eilen und Konzerte spielen. Und ich weiß nicht, warum eigentlich. Das alles habe ich mich gefragt. Wie wenig weiß ich über die Welt! Was habe ich alles erzählt auf der Bühne, wenn ich so wenig weiß? Sehr unangenehme Fragen.

Und die Antwort auf: Warum das alles?

Patricia Kopatchinskaja: Zu viel Energie wahrscheinlich und nicht wissen, was man sonst macht, sonst machen könnte. Dabei gäbe es schon einiges. Aber mir fällt immer nur ein: irgendwo hingehen und spielen. Ich bin ein Bühnentier. Ich weiß nicht, was ich sonst kann.

Glauben Sie, dass Sie einfach so wieder auf die Bühne rauskönnen? Ist das wie Fahrradfahren?

Patricia Kopatchinskaja: Was weiß ich nicht, ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt noch spielen kann! Ob ich noch denken kann! Vielleicht falle ich um. Das wäre meine erste echte Performance (lacht). Aber wir sind ja nicht umgefallen, wir waren plötzlich alle in einer absolut neuen Wahrnehmungswelt. Alle eingesperrt. Schockstarre ist ein gutes Wort dafür, wir waren alle wie gelähmt. Ich habe viele Freunde angerufen und gefragt und allen ging’s ziemlich gleich. Wenn man in einem Tunnel weiß, wie lang er ist, ist es weniger schlimm. Aber es gab ja kein Licht.

Glauben Sie, dass der Konkurrenzkampf nun härter wird?

Patricia Kopatchinskaja: Konkurrenz hat jemand anderes erfunden, aber kein Musiker. Die echten Musiker erfreuen sich aneinander. Ganz besonders junge Musiker sind sehr miteinander in Kontakt.

Als wir uns 2018 sprachen, war die Welt noch eine ganz andere, aber schon damals haben Sie andere Konzertkonzepte gefordert: kleiner, direkter, auch politischer. Wie wird das nun kommen?

Patricia Kopatchinskaja: Hat das nicht Winnie Puuh gesagt: Ich kann alles voraussagen, nur nicht die Zukunft? (lacht) Keine Ahnung – vielleicht werden die Orchester verschwinden. Oder, im Gegenteil, das Publikum wird strömen und es wird voll sein. Ich habe eine so unglaubliche Dankbarkeit, wenn ich wieder spielen darf, wenn ich wieder jemandem zuhören darf. Wissen Sie, sogar der Geruch geht mir ab, von der Bühne, von Menschenansammlungen. Ich kann doch nicht für einen Computer spielen, das kommt überhaupt nicht in Frage! Dann werde ich doch lieber Installateur. Ich spiele für Menschen.

Also: Wie wird es sein?

Patricia Kopatchinskaja: Vielleicht werden die Künstler etwas mehr Mut haben, sich mehr den relevanten Dingen zuzuwenden. Was hat es für eine Relevanz, immer wieder Beethoven oder Tschaikowsky zu spielen, immer wieder schön, perfekt, gleich? Was wollen wir uns beweisen? Dass es uns gut geht und wie schön die Musik ist? Hat es vielleicht auch noch einen Sinn, ins Konzert zu gehen? Können wir vielleicht in der Kunst eine Ebene finden, wo wir sensibler werden und die Welt und die Zukunft etwas offener ansehen?

Bei Ihren Konzerten gibt es oft mehr als nur ein Bündel schicker Stücke. Ihnen ist doch bestimmt in den vergangenen Wochen viel eingefallen für neue Konzept-Programme?

Patricia Kopatchinskaja: Nicht viel. Das ist wie eine Schwangerschaft, das braucht viel, viel Zeit. Aber ich habe das Privileg, mit den Berliner Philharmonikern ein Kammermusik-Wochenende zu gestalten. Da dachte ich an die Komponisten von heute, nicht die bekannten, die alten. Die jungen. Dafür müsste man die Berliner Philharmonie wie ein Planetarium ansehen und verschiedene Planeten bespielen. Bei einem anderen Projekt, mit dem Mahler Chamber Orchestra, möchte ich, dass das Orchester in einem riesigen Sarg spielt. Aber das ist wohl nicht möglich, den Sarg zu bauen. Der schließt sich langsam und dann kommen Models heraus, von der Bühne, halb nackt, total magersüchtig, mit Markenartikeln, und im Hintergrund erklingt Luigi Nonos „Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz“. Diese Gegenüberstellung fände ich interessant.

Sie wissen schon, dass in Ihnen offenbar eine Theaterregisseurin steckt, die rauswill?

Patricia Kopatchinskaja: Was auch immer in mir steckt, da will ich nicht mehr hineinschauen. Wenn ich wieder ein Sabbatical habe, werde ich die Tage ganz sicher so strukturieren, dass ich einfach nur arbeite und mich nicht hinterfrage. Spinatstrudel. Jede Stunde wird nach Plan ablaufen.

Haben Sie keine Angst, dass manche nun sagen, es ginge künftig auch ohne Kultur?

Patricia Kopatchinskaja: Wenn das mit den Konzerten passiert, dann sind wir schuld daran, nicht das Publikum. Wenn wir nichts Interessantes machen, zeigen, selbst erleben, gibt’s natürlich kein Publikum. Die Leute müssen kommen, wenn sie ständig gekitzelt werden, wenn sie entzückt und neugierig sind. Wir müssen es so gestalten, dass das weitergeht. Aber ich glaube, dass die Leute hungrig sind nach neuen Eindrücken. Glauben Sie, dass es normalen Menschen anders gegangen ist als uns? Sicher nicht. Normale Menschen können mehr als Spinatstrudel backen, das ist ganz sicher (lacht), aber trotzdem: Ich möchte nicht behaupten, dass wir Musiker lebensnotwendig sind. Wir können auch als Bettler auf der Straße auftreten. Ich werd’s sicher machen, wenn es nicht anders geht. Aber ich glaube nicht, dass es so still vor sich hingehen könnte.

Was aus Ihrem Berufsleben werden Sie aus der Zeit vor Corona nicht vermissen?

Patricia Kopatchinskaja: Als ich in diesem ganz dunklen Loch war, habe ich gedacht: Will ich wieder so arbeiten, wie ich gearbeitet habe? Und die Antwort war auch: nein. Das hat mir auch Angst gemacht. Es war schon sehr übertrieben, andererseits: Die Nachfrage war ja da. Aber ich bin jetzt mitten im Leben, ich bin 43, ich muss mir sagen, wo ich etwas leisten kann. Wo es mich braucht. Ich glaube nicht, dass ich weniger arbeiten werde, das kann ich gar nicht. Es geht darum: Was könnte man ändern, wo hätte man weniger Gewissensbisse? Auch wenn wir uns auf der sinkenden Titanic befinden, können wir trotzdem etwas zu unserem Gewissen beisteuern; unsere Reisen geschickter und klüger planen. Es geht leicht, wenn alle – Veranstalter, Musiker, Agenturen – miteinander arbeiten. Kennen Sie irgendjemanden, der der Natur Schlechtes antun möchte? Ich kenne niemand. Alle wollen helfen.

Wenn Sie könnten, wie Sie wollten und alles wieder ginge: Welches Stück stünde ganz oben auf Ihrer Wunschliste?

Patricia Kopatchinskaja: Ich habe keine Pläne. Ich finde es eigentlich ganz gut so. Jetzt kommen Konzerte, die sehr spontan schnell organisiert werden. Man überlegt sich neue Programme, das finde ich sehr kreativ. Sehr viele gute Geschichten sind in der Not entstanden: Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“, das war nach dem Ersten Weltkrieg. Einer hat es bezahlt, kleine, mobile Bühne, das ist doch wunderbar, so wie früher die Commedia dell’arte. Ich finde es nicht schlecht, wenn wir uns an unsere Wurzeln erinnern. Das ist nicht dieser Luxus – in diesen tollen Hallen spielen zu können, mit toller Akustik, wo alles schmeichelhaft ist. Sondern für Menschen! Für echte Menschen, auch für solche, die keine Ahnung haben und eventuell uns gar nicht brauchen. Die glauben das. Aber wenn sie uns einmal gehört haben, können wir sie vielleicht becircen. Es sind neue Aufgaben, die auf uns zukommen. Wir können unsere Kreativität jetzt wirklich ausleben.

Sind die jetzt Optimistin oder Pessimistin?

Patricia Kopatchinskaja: Gar nichts bin ich. Ich bin so ein Vogel, einer von diesen Vögeln da draußen. Wenn Sie die hier vor meinem Fenster nur sehen würden. Der hat so eine komische Frisur, der kommt sicher aus irgendeinem Wunderland. So ein Vogel bin ich, glaube ich.

Patricia Kopatchinskaja mit dem SWR Orchester/Teodor Currentzis, Mi 23.9., 18.30 + 21.00 Uhr, Elbphilharmonie (ausverkauft). Weitere Konzerte mit der Geigerin ab 1.10.