Hamburg. Es geht um einen Fall, der vor zehn Jahren hohe Wellen geschlagen hat – und der ganz klar hätte vermieden werden können.

Als die elf Jahre alte Chantal starb, war schon lange vieles im Argen – in der Familie, in der sie lebte, aber auch im ganzen System der Betreuung, unter der das Mädchen stand. „Chantal ist an einer Methadon-Vergiftung gestorben“, erzählt Rechtsmediziner Klaus Püschel im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Es war ein besonders tragischer Fall, der so nicht hätte geschehen dürfen“, ergänzt Mittelacher. „Es hätte sich nur mal jemand kümmern müssen. Aber die Schülerin war zuletzt allein, hilflos, auch als sie schon mit dem Tode rang.“ Ein unfassbar trauriges Schicksal.

„Schon der Start ins Leben war für das Hamburger Mädchen sehr schwierig“, sagt Püschel. „Die leibliche Mutter und der Vater des Kindes, das 2001 zur Welt kam, waren beide drogenabhängig. Sie waren vollkommen überfordert mit ihrer Tochter.“

Verbrechen Hamburg: Elfjährige in Drogenfamilie vermittelt

Zuflucht suchte das Mädchen dann in seiner Verzweiflung in der Nachbarschaft in Hamburg-Wilhelmsburg, bei Sylvia L. und Wolfgang A. Chantal war nun öfter bei dem Paar und dessen Kindern zu Besuch. Und das erschien für das zuständige Jugendamt als angenehme Lösung. Chantal sollte nun in der neuen Familie bleiben. „Wir fanden es ganz wunderbar, überhaupt Pflegeeltern gefunden zu haben“, erzählte später eine Pflegeeltern-Beraterin.

Doch es wurde nicht wirklich hingeschaut. „Es ging schon damit los, dass nicht geprüft wurde, ob Sylvia L. und Wolfgang A. als Pflegeeltern geeignet sind“, sagt Mittelacher. „Dabei hätte kein Kind in eine Drogenfamilie vermittelt werden dürfen. Sylvia L. und Wolfgang A. hatten aber sehr wohl ein erhebliches Rauschgiftproblem.“ Und dann kommt es am 15. und 16. Januar 2012 zu dem Drama: Chantal vergiftet sich an einer Methadon-Tablette. Die Staatsanwaltschaft Hamburg erhebt schließlich Anklage gegen die Pflegeeltern von Chantal.

„Es tut weh, sie verloren zu haben“

Der Vorwurf lautet auf fahrlässige Tötung und Verletzung der Fürsorgepflicht. Der Prozess beginnt am 1. Dezember 2014. Laut Ermittlungen nahm Chantal eine Methadon-Tablette im Glauben, es sei ein Medikament gegen Übelkeit. Den Eltern wird vorgeworfen, die Ersatzdroge nicht sorgfältig verschlossen aufbewahrt zu haben. Außerdem hatte die Pflegemutter die Elfjährige nur am Telefon beraten. Und der Pflegevater ließ das kranke Kind alleine in der Wohnung zurück. Am Nachmittag fand die Pflegemutter Chantal in ihrem Bett.

Die Elfjährige atmete nicht mehr. Die angeklagte Pflegemutter sagte im Prozess über Chantal: „Es tut weh, sie verloren zu haben.“ Und der ehemalige Pflegevater beteuerte: „Für mich ist die schlimmste Strafe überhaupt, dass Chantal gestorben ist.“ Er erklärte, er sei „zu keiner Zeit von Lebensgefahr ausgegangen“.

Chantals Sterben zog sich über mehrere Stunden hin

Tatsächlich dämmerte Chantalin dieser Zeit vom Schlaf in eine tiefe Bewusstlosigkeit hinüber – und dann in den Tod. „In der Rechtsmedizin haben wir nachvollzogen, dass sich Chantals Sterben über mehrere Stunden hingezogen hat“, erklärt Püschel. „Dabei hätte das Mädchen mit Sicherheit gerettet werden können – wenn nur jemand rechtzeitig ärztliche Hilfe geholt hätte.“

Viele andere erschütternde Umstände sind im Prozess ebenfalls zur Sprache gekommen. Zum Beispiel hatte Chantal nicht einmal ein eigenes Bett. Der Herd in der Küche war nicht angeschlossen. Auch ein Jugendamtsmitarbeiter nannte die Lebensverhältnisse in der Familie für ein Pflegekind „grenzwertig. Es herrschte ein Tohuwabohu“, sagte er. Nach Darstellung einer Zeugin war den Mitarbeitern des Jugendamts die Drogenvergangenheit der Pflegeeltern nicht bekannt. „Mir wurde das nie, nie gesagt“, erklärte die Frau, die die Pflegeeltern seit 2008 betreut hatte.

Chantal wollte die Familie verlassen

Chantal hat die Verhältnisse allerdings sehr wohl als furchtbar empfunden. Noch im November 2011, wenige Wochen vor ihrem Methadon-Tod, hat sie versucht, ihre drogensüchtige Pflegefamilie zu verlassen. „Bitte geh zum Jugendamt und hole mich aus dieser schrecklichen Familie“, schrieb sie an ihren leiblichen Vater.

Die Urteilsverkündung erfolgte am 5. Februar 2015. Wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen wurde die Pflegemutter zu acht Monaten Haft und der Pflegevater zu einem Jahr verurteilt. Beide Freiheitsstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten hätten in sorgfaltswidriger Weise den Tod Chantals verursacht, sagte damals der Vorsitzende Richter.

Verbrechen Hamburg: Tod "ein Systemversagen"

Es handele sich bei dem Tod des Mädchens um „kein Augenblicksversagen, sondern um ein Systemversagen“, das beide Pflegeeltern zu verantworten hätten. „Die Sorgfaltspflichtverletzung war ursächlich für Chantals Tod.“ Durch ihre langjährige Erfahrung mit Drogen habe das Paar die Gefährlichkeit des Wirkstoffes Methadon gekannt. „Sie wussten, schon eine Tablette ist für ein Kind lebensbedrohlich.“