Die Rede von Abendblatt-Chefredakteur Menso Heyl

Sehr geehrter Herr Präsident der Bürgerschaft Röder, sehr geehrter Herr Bürgermeister von Beust, sehr geehrte Exzellenzen, lieber Herr Dr. Döpfner, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Wahlkämpfer,

am ersten Morgen des neuen Jahres hatte ich einen seltsamen Traum:

Angela Merkel und Kurt Beck kommen gemeinsam in den Himmel.

Petrus macht ihnen die Tür auf. Die beiden sehen, dass an allen Wänden Uhren hängen. "Was sind denn das für Uhren hier", fragt Angela Merkel. Und Petrus antwortet: "Jede dieser Uhren gehört zu einer Regierung. Und wenn die Regierung einen Fehler macht, rücken die Zeiger vor." "Wo ist denn die deutsche Uhr?", fragen Merkel und Beck aufgeregt im Chor. Petrus antwortet: "Die hängt in der Küche als Ventilator."

Meine Damen und Herren, das Hamburger Abendblatt feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag. Wir freuen uns darauf. Und ich komme fröhlich später darauf zurück. Aber ich stehe zunächst einmal in einer doch anderen Stimmung hier.

Ich bin erschüttert über etwas, das offenbar viele nicht mehr zu spüren scheinen: Den schleichenden Verlust von Freiheit in unserem Land.

Das mag harmlos beginnen.

Welcher Raucher, so ungesund sein Laster auch sein mag, glaubt eigentlich noch, dass die Behaglichkeit seiner alten Eckkneipe jemals wiederkehrt? Welcher Fahrtensegler kann begreifen, dass nun Bordtresore sein müssen für die Aufbewahrung der roten Seenot-Signalmunition? Welcher Holzofenfreund, der eben noch stolz auf seine ausgeglichene CO2-Bilanz Holzscheite nachlegte, kann heute sicher sein, ob er nicht bald ohne neuen Filter in seinem Schornstein als Feinstaubferkel gilt?

Tatsächlich wagt der Staat eine immer stärkere Einmischung in Lebensbereiche, die bisher der freien Vereinbarung gesellschaftlicher Kräfte überlassen waren. Eben galt es noch, den Mindestlohn als Schutz vor menschenunwürdigen Niedrigsätzen zu installieren. Jetzt traut bereits ein CDU-Bundestagspräsident dem Staat die Kompetenz zu, Gehälter von Managern und Fußballprofis deckeln zu sollen. Nachtigall, ich hör’ dir trapsen…

Ja, es sind gerade Wahlkämpfer, die besonders gern nach dem Staat rufen. Wer alles vom Staat erwartet, muss aber auch die Omnipotenz des Staates akzeptieren. Wollen wir das wirklich?

Für bedrohte Balance in der Gesellschaft sind mehr zuständig als staatliche Organe. Für die Balance in der Gesellschaft sind die Kräfte der Gesellschaft zuständig. Es gehört zur Freiheitsgarantie der Marktwirtschaft, das richtige Maß im Auge zu behalten. Maß halten! Dafür ist ein Politiker einmal als Maßhaltekanzler verlacht worden. Aber, Maß halten! Das ist auch heute noch ein Imperativ.

Zurück zum Staat.

Welcher Anwalt, welcher Arzt, welcher Journalist, welcher Pastor glaubt wirklich noch, dass sein Computer in Zukunft vor Trojanern sicher ist? Welcher Chef schafft es gegenüber einem Job-Suchenden noch ehrlich zu sein, ohne dabei an irgendeiner Stelle das Antidiskriminierungsgesetz zu verletzen?

Immer schneller läuft die Einmischungsmaschinerie in Brüssel und Berlin. Sie sperrt das Leben in immer dichtere Stacheldrahtverhaue von Paragrafen. Immer mehr regelt der Staat, immer weniger traut er dem Einzelnen zu. Einmal geht es darum, uns vor dem Staat zu schützen. Einmal geht es darum, uns vor uns selbst zu schützen. Und einmal geht es darum, wirtschaftlich die einen vor den anderen zu schützen.

Verstehen Sie mich nicht falsch! Alle drei Felder sind bestimmt wichtig. Gerade, wenn wir auf die vom SPIEGEL diagnostizierte Gerechtigkeitslücke blicken, wissen wir, wie gefährlich besonders in Deutschland ein Auseinanderklaffen von Arm und Reich werden kann.

Eine Befragung der Freien Universität Berlin unter Schülern von 10. und 11. Klassen Brandenburgs hat vor wenigen Tagen ergeben: Aus Ahnungslosigkeit und Zukunftsangst verklären Brandenburger Schüler die DDR als Sozialparadies. Das ist deutsche Angst und deutscher Sprengstoff denn in Wahrheit sehnen sich viel zu viele nach umfassendem Behütetsein.

Bei allem Bemühen, jeden vor jedem zu schützen, darf es nicht zu einem Zementieren der Gesellschaft kommen. Das ist ein Weg, auf dem wir schon zu weit gegangen sind. Es ist ein Weg, der Freiheit erstickt.

Ich bin überzeugt - und die Jahre nach 1945 beweisen es: Je freier der Einzelne sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann, desto größer ist die Kraft der Gesellschaft als Ganzes. Dass jeder Einzelne Risiken eingehen kann und damit für sich und andere Chancen eröffnet das ist die wahre Kraft der Gesellschaft.

Der Historiker Fritz Stern floh 1938 vor den Nazis aus Deutschland. Ein halbes Jahrhundert später gehörte er der Kommission an, die eine widerstrebende Maggie Thatcher überzeugte, Deutschlands Wiedervereinigung zuzustimmen. Dieser bewundernswerte Mann hat als Summe seiner Erfahrungen den klaren Satz geschrieben: "Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und tiefste Lehre aus meinem Leben und meiner Arbeit."

Zerbrechliche Freiheit hat auch mit dem Aufbürden von Lasten an der falschen Stelle zu tun. Nehmen wir einmal das Beispiel einer jungen allein stehenden Frau. Nehmen wir an, sie hat brutto wunderbare 3000 Euro. Aber nur 1600 kommen netto bei ihr an. Statt immer mehr Abzügen, sollten wir den Bürgern mehr Verfügungsrechte über das geben, was sie erwirtschaften! Das Gegenteil ist der Fall: Einer überbordenden Einzelfallgerechtigkeit wegen bleiben wir bei einem steuerlichen Monstersystem.

Wo mag das noch hinführen? Wahrscheinlich werden irgendwann auch Lotto-Jackpots verboten, weil angeblich Gutmeinende es für obszön halten, so viel Geld zu gewinnen. Ist eigentlich noch niemandem aufgefallen, dass es keinen größeren Motivator gibt als die Chancen, die ein hoher Gewinn verschafft? Warum sonst spielten beim letzten großen Jackpot 23 Millionen Deutsche mit? Warum haben sie fünfmal so viel Geld eingesetzt wie sonst? Sie spielten um den Ausbruch aus der Enge und den Einschränkungen des Lebens. Diese Sehnsucht treibt Menschen seit Urzeiten.

Wir sollten beim Lotto unser Geld verspielen dürfen. Aber unsere Freiheit dürfen wir nicht verspielen.

Ich bin dafür, dass im Lotto des Lebens mit Höchsteinsätzen an Arbeit, Können und Glück um Höchstgewinne gespielt werden darf. Und deswegen wünsche ich mir in diesem Geburtstagsjahr des Hamburger Abendblatts als allererstes: Bremst die Gesetzgebungs-Maschine, stoppt die Vorschriftenwut!

Es steht in der Bibel, dass der Mensch mit seinen Talenten wuchern soll. Aber es steht nicht darin, dass eine Kommission aus gesellschaftlich relevanten Kräften bestimmen darf, dass niemand mehr verdient, als die Kanzlerin - liebe Frau Merkel, lieber Herr Beck, hochverehrter Herr Lammert!

Verzeihen Sie mir meinen Furor.

Ich bin überzeugt, dass die, die ihre Chancen nutzen können, denen helfen müssen, die kaum Chancen haben. Wir haben auch heute schon leuchtende Beispiele dafür.

Aber fast alle Menschen, die wenige Chancen haben, haben die Sehnsucht, aufzusteigen. Dennoch breitet sich in Deutschland wie eine Krankheit Abstiegsangst aus. Wir dürfen diese Abstiegsangst nicht noch verstärken.

Die Geschichte beweist, dass Wahlkämpfer, die auf Verlustängste bauen, stets gegenüber denjenigen verloren haben, die Menschen Chancen boten und Aufstieg möglich machten. Das ist die Qualität zu der sich die Politik verpflichten muss. Wer nur Geschenke verteilt, wird auf Dauer verlieren.

Lassen Sie mich über die Zukunft sprechen. Denn ich habe einen zweiten Wunsch in diesem Jahr: Schauen wir hier alle gemeinsam dorthin, wo auch immer in unserer Stadt Kreativität aufblüht.

Kreativität ist für die Zukunft dieser Stadt immer wichtiger geworden. Wir sind glücklich, dass sich in Hamburg rund um eine einzigartige Mischung von Medien ein kreativer Humus entwickelt hat, der seinesgleichen sucht.

Diese unglaubliche Vielfalt von Film- und Fernsehmachern, Theaterleuten, von Zeitschriften, Zeitungen und Werbeunternehmen hat noch immer keine andere deutsche Stadt. Sicher, es gab Substanzverluste. Aber die große Kraft ist noch immer da. Sie wird getragen von Hunderten kleinen kreativen Inseln, von 110 000 Mitarbeitern. Attraktivität und Strahlkraft einer Stadt hängen zum großen Teil von diesen Menschen ab. Wir sollten das alle miteinander begreifen.

Wer immer regieren wird, möge bitte dafür sorgen, dass die frische Luft, die in Hamburg herrscht, auch bleibt. Ich finde zum Beispiel gut, dass die Spitze der Hamburgischen Anstalt für Medien nicht nach Parteibuch besetzt wird, sondern der Enkel eines sozialdemokratischen Bürgermeisters unter einem christdemokratischen Bürgermeister dort zum Zuge kommt.

Weil das so ist, weil so etwas in dieser Stadt möglich ist, auch deshalb liebe ich Hamburg. Und damit bin ich nicht allein. Es gibt kaum eine Stadt, die von ihren Bürgern so geliebt wird.

Und ich glaube, dass in den letzten 60 Jahren das Hamburger Abendblatt an Hamburgs Offenheit mitgearbeitet hat. Wir haben alten Damen ihr Recht erstritten. Wir haben wichtige Fäden im Netzwerk von organisierter Kriminalität zerrissen. Wir haben unsaubere Machenschaften im Getriebe der Politik ans Licht geholt. Und immer wieder haben wir uns dabei gegen eine Phalanx von Widersachern durchsetzen müssen.

Unsere Kollegen sind für ihre Arbeit mit dem Theodor-Wolff-Preis, mit dem Wächter-Preis und vielen anderen namhaften Preisen ausgezeichnet worden. Zuletzt wurde ein ganzes Ressort für die Begleitung des Kulturlebens der Hansestadt geehrt.

Unsere Leser haben uns sehr Vieles leicht gemacht. Sie haben uns aus übervollem Herzen unterstützt und mit ihren Spenden vielen bedürftigen Menschen sehr geholfen.

Wir wissen, dass für den Lebenserfolg, auch für den der Männer, häufig die Frauen verantwortlich sind. Beim Hamburger Abendblatt sind weit mehr als die Hälfte unserer Leser - 57 Prozent - Frauen. Das ist gewiss ein geheimer Teil unseres Erfolges und deswegen hier ganz kurz eine Geschichte von Bill und Hillary Clinton:

Bill und Hillary halten mit ihrem Auto an einer Tankstelle. Der Tankwart erkennt sie und putzt voller Eifer alle Scheiben. "Siehst du", sagt Bill zu Hillary, "so zuvorkommend wird man behandelt, wenn man mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten verheiratet ist. Stell dir vor, du wärst mit dem da verheiratet", sagt er und zeigt auf den Tankwart. "Ja", antwortet Hillary, "wenn ich mit dem Tankwart da verheiratet wäre, wäre der Präsident."

Am 14. Oktober wird unsere Zeitung 60 Jahre alt. Ich verspreche Ihnen, dass wir vom Hamburger Abendblatt - so gut es in unserer Macht steht - weiter hinschauen werden, wo es Sorgen und Probleme gibt. Wir werden nicht wegschauen, wenn es gefährlich wird.

Aber das wird nur möglich sein, wenn Sie weiter an unserer Seite stehen. Ein gutes Jahr 2008! Vielen Dank, meine Damen und Herren.