Bad Segeberg. Das Ehepaar Prochnow räumt in Bad Segeberg auf. Auch wenn der städtische Bauhof querschießt. Und finden schon mal 113 Wodkaflaschen.

673 Schnapsflaschen lagen im Knick. Garniert wurde das Altglas mit benutzten Kondomen und diversen Spritzbestecken. Dieses umfangreiche Sortiment haben Margrit und Erwin Prochnow an einem einzigen Tag auf dem Gelände einer örtlichen Diskothek gesammelt. Müll einfach liegen lassen? Das können die beiden Senioren nicht. Seit Jahrzehnten heben sie all das vom Boden auf, was ihre Mitmenschen gedankenlos wegwerfen. Ob im Urlaub auf Fuerteventura, in ihrer ehemaligen Heimat an der Nordsee oder in ihrem neuen Zuhause in Bad Segeberg. Meist ernten die freiwilligen Müllsammler dafür Lob – aber nicht immer.

Die Prochnows stammen aus Ostrohe, einer 1000-Seelen-Gemeinde in Dithmarschen. Dort war Erwin Prochnow als „radelnder Bürgermeister“ bekannt, der 16 Jahre lang ehrenamtlich die Amtsgeschäfte leitete und stets auf dem Rad durch den Ort kurvte. Beruflich war der heute 81-Jährige als Personalchef bei der Telekom in Heide tätig. Seine jetzt 75-jährige Frau, eine gelernte Arzthelferin, konzentrierte sich auf die Erziehung der beiden Kinder und arbeitete später an einer Hotelrezeption.

Der Beitrag über die Prochnows zum Hören

Als sie Urlaub auf den Kanaren machten, landete der Müll aus dem Atlantik dem Ehepaar einst direkt vor den Füßen. „Da wurde haufenweise Plastik angeschwemmt“, schildert Erwin Prochnow. „Wir konnten das nicht mit ansehen.“ Haben sie auch nicht. Wenig später steckte das Plastik in Müllbeuteln. Passanten waren fassungslos. „Müssen Sie das tun?“, lautete die bange Frage. Der Norddeutsche ließ seinen trockenen Humor aufblitzen: „Wir haben Auftrag vom Umweltminister in Madrid. Dann dürfen wir auch wiederkommen.“

Müll in Büsum gesammelt

Doch es blieb nicht dabei, Spanien zu entmüllen. Auch in Büsum, wo die Prochnows 20 Jahre lang wohnten, lag jede Menge Unrat an Strand. „Die Nordsee will den Dreck auch nicht haben und spuckt ihn wieder aus“, sagt Margrit Prochnow. „Unsere Wiesen und Wälder können das leider nicht.“ Genau deshalb ziehen die beiden mindestens zweimal pro Woche los.

Seit 2016 wohnen sie in Bad Segeberg. Tochter Birgit ist Gymnasiallehrerin an der dortigen Dahlmannschule; und bei einem Besuch haben die Senioren die Kalkbergstadt kennen- und schätzen gelernt. „Ich muss Wasser um mich haben“, sagt Margrit Prochnow. Die Eheleute sind in einer geräumigen Wohnung mit Blick auf den Großen Segeberger See zu Hause und sind somit nur wenige Schritte von der Natur entfernt – und dem unvermeidlichen Müll.

113 Wodkaflaschen entdeckt

Erwin Prochnow hat stets sein Fahrrad dabei; seine Frau nutzt einen Plastikgreifer, damit sie sich nicht so bücken muss. Beide kennen die „Schmuddelecken“ der Kreisstadt wohl besser als jeder andere. Wobei gerade entlang der idyllischen Wanderwege so manche Buddel im Gebüsch landet. Auf einem Teilstück der Strecke um den Großen Segeberger See haben die Rentner bei einem ihrer ersten Spaziergänge ganze 113 Wodkaflaschen entdeckt. „Die lagen da wie gesät“, schildert Margrit Prochnow. Am nächsten Tag kehrten sie und ihr Mann mit Müllbeuteln zurück.

Zerbrochene Glasflaschen großes Ärgernis

Gäbe es die Sendung „Wetten, dass..?“ noch – die beiden könnten wohl pro­blemlos erraten, in welchem Teil der Stadt welcher Müll zu finden ist. Im Landratspark sind kleine Magenbitterflaschen en vogue, anderswo steht man mehr auf Wodka, Energydrinks, oder unter den Sitzbänken an der Seepromenade liegen Unmengen von Zigarettenkippen, obwohl direkt daneben Papierkörbe stehen. „Man ärgert sich aber besonders über die zerbrochenen Glas-flaschen“, sagt Erwin Prochnow. Er selbst schneidet sich oft an den Scherben.

Ans Aufhören hat er trotz der Blessuren nie gedacht. Nur ein paar wenige Euros erwirtschaften die Eheleute mit ihrer ökologischen Sammelleidenschaft. Sie geben gefundene Mehrwegflaschen ab und kassieren das entsprechende Pfand.

Verärgert waren die Prochnows, als sie beim städtischen Bauhof um ein paar kostenlose Müllsäcke baten und von einem Mitarbeiter regelrecht abgebürstet wurden. Ihnen wurde unterstellt, die Beutel für ihren Privatmüll nutzen zu wollen – obwohl das Ehepaar bei der Stadtverwaltung inzwischen bestens bekannt ist. Außerdem gab es eine Diskussion, ob man an Kreis-, Landes- oder Bundesstraßen überhaupt sammeln darf. Wenig später erhielten sie einen Brief, in dem Bürgermeister Dieter Schönfeld um Verzeihung für den unschönen Zwischenfall bat und zugleich das Engagement des Ehepaares lobte. Die Müllsäcke gab es obendrein. Auch die Deutsche Bundesbahn hat ein Dankesschreiben geschickt.

Manche Passanten schauen betreten weg, wenn Margrit und Erwin Prochnow den Müll vom Wegesrand wegpflücken. Sie empfinden diese Tätigkeit wohl als etwas schäbig. Andere wiederum reagieren sehr nett – so wie Busfahrer Jan Anton. Er hatte die Müllsammler bei seinen Touren mit dem Stadtbus schon öfter bei ihrem ungewöhnlichen Hobby beobachtet. Er stieg aus, dankte ihnen und überreichte eine kleine Bibel, versehen mit einer persönlichen Widmung: „Ich finde Ihre Arbeit eine Gnade.“ Anton ist ein führendes Mitglied der arabisch-evangelischen Gemeinde in Bad Segeberg.

Zeitung lieber papierlos

Solche Begegnungen spornen die beiden Müllsammler an – ebenso die Anerkennung bei „Nicht meckern – machen!“. Als treue Zeitungsleser haben sie übrigens den Vorzug von ePaper und iPads entdeckt. So lässt sich die Zeitung nicht nur bequem in den Urlaub mitnehmen. Man vermeidet damit auch eine Menge Papiermüll. Und das ist es schließlich, worauf es Margrit und Erwin Prochnow ankommt.