Hamburg. Seine Sprache ist rau, seine Biografie derbe: Jürgen Schwandt (80) ist im Internet Kult. Er wettert viel und erhält Morddrohungen.

Jürgen „Kapitän“ Schwandt hat nur sein bewegtes Leben als Seemann erzählt. Doch seine Biografie „Sturmwarnung“ wurde binnen kurzer Zeit zum Bestseller und der Käpt’n selbst zu einer Kultfigur in den sozialen Medien, die es mit einfachen Worten schafft, gerade jüngeren Leuten die Welt zu sortieren – doch dafür erhält er inzwischen auch Morddrohungen.

Wenn Gefahr droht, dann von Steuerbord, von rechts. „Schwandt an die Wand!“ lautet die Losung, die diesmal ein Rostocker auf Kapitän Schwandts Facebook-Seite abgesondert hat: „Wenn wir erst an der Macht sind, stellen wir dich vor den Volksgerichtshof und erschießen dich standrechtlich.“

Der Ton an Land ist rauer als auf See

Das kommt davon, wenn man sich für Flüchtlinge, sozial Schwache und mehr Gerechtigkeit einsetzt. Der Ton an Land ist heutzutage häufig rauer als der auf See, doch davon lässt sich Jürgen Schwandt, Ex-Kapitän und Buchautor, nicht erschüttern, im Gegenteil: „Das fasse ich eher als Kompliment auf“, sagt er gelassen, zündet sich mit seinem abgegriffenen Zippo eine weitere Zigarette an und lässt seinen Blick am Kai des Hamburger Museumshafens entlangschweifen.

Wir stehen achtern an Deck der „Hamburger Deern“. Man könnte den Kapitän auch als Original bezeichnen, aber dieses Klischee würde es nicht richtig treffen. „Authentizität“ dagegen käme wohl besser hin, doch Schwandt verzieht sein zerfurchtes, wettergegerbtes Gesicht mit dem schlohweißen Kinnbart und winkt pikiert ab: „Ich bin, was ich bin. Bloß ein alter Sack von 80 Jahren, der allerdings geprägt wurde von dem, was er erlebt und durchgemacht hat.“

Die Generation „Wischfinger“ auf der Suche nach Orientierung

Und das war viel; reichte locker für ein Buch, von dem seit Mitte April bis heute über 50.000 Exemplare verkauft wurden und das seit 16 Wochen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste steht.

„Unsere Wischfinger-Generation“ sehne sich nach Orientierung, befindet der Käpt’n mit knarziger Stimme, die er seit 64 Jahren mit seiner Kettenraucherei pflegt. Früher waren es mindestens zwei Päckchen Filterlose am Tag, heute raucht er die Ultraleichten. Früher hat er auch manchmal gesoffen wie ein Loch.

Der Kapitän hält zu seiner Mannschaft – auch im Fußball

Doch Anfang der 70er-Jahre, als er nach 16 Jahren Seefahrt im Range eines Kapitäns auf großer Fahrt wieder in Hamburg sesshaft geworden war, als er seine Tanzbekanntschaft Gerlinde geheiratet und für sie, wenn auch schweren Herzens, beim Wasserzoll angefangen hatte, merkte er, dass seine Finger schon am frühen Morgen zitterten und er sie nur mit einem daumenbreiten Schluck Whisky ruhigstellen konnte. Schwandt hat einen ziemlich breiten Daumen. „Daraufhin habe ich mich zum kalten Entzug entschlossen. Das war hart, aber da musste ich durch.“

Am liebsten schießt er gegen die AfD und die Pegida-Bewegung, prinzipiell gegen alles und jedes Ex­trem, das die Seelen der Menschen seiner Meinung nach vergiften kann: „Ich gratuliere meinem liebsten Spieler Jérôme Boateng zur Wahl ,Fußballer des Jahres‘. Dr. Gauland ist bestimmt auch ganz begeistert und macht gerade Konfetti aus seinen Parktickets!“, bloggte er vor gut drei Wochen.

Es liegt nicht an der Religion oder der Nationalität

Er habe auf seinen Reisen lernen müssen, „weltoffen und tolerant zu sein. Und da draußen konnte ich in der Tat feststellen, dass es überall auf der Welt reizende Menschen gibt, aber natürlich auch das genaue Gegenteil“, sagt er. Das habe nichts mit Religion, Nationalität, Hautfarbe oder der jeweiligen politischen Einstellung zu tun. „Es sind häufig bloß die fehlenden Manieren.“

Er zitiert genüsslich aus einem seiner Blogbeiträge: „Ich habe noch gelernt, dass man rechts geht. Heute schiebt die Generation ,Dicke Eier‘ jedoch breitbeinig über den Gehsteig, auch dabei mit Blick aufs Mobiltelefon. Als ich probehalber einfach mal stehen blieb, hagelte es freche Kommentare: ,Wieso springt der Opa nicht zur Seite?‘“

Die Beschimpfungen und Drohungen sind mehr geworden

Oder er schreibt: „Andere Zeitgenossen rotzen überallhin, als gelte es, ein Revier zu markieren. Von Zigarettenkippen, die durch die Gegend geschnippt werden, will ich gar nicht anfangen. Und ja, ich bin wirklich in der Phase ,grummeliger alter Sack‘ angekommen. Was ich an Rücksichtslosigkeiten beobachte, ließe sich seitenweise kommentieren. Kleine Aufmerksamkeiten wie Türaufhalten, ein freundliches Dankeschön oder jemandem in die Jacke zu helfen, sind offenbar komplett aus der Mode gekommen.“

Kapitän Schwandts Botschaften kommen an, „und das bevorzugt bei jüngeren Menschen“, hat sein Verleger Stefan Kruecken festgestellt. Die Drohungen und Beschimpfungen haben zugenommen. Sogar auf Lesungen sei inzwischen schon mal gegen den „Negerfreund Schwandt“ gepöbelt worden. „Wenn es zu bunt wird, schalten wir inzwischen die Polizei ein und erstatten Strafanzeige“, sagt Stefan Kruecken. Die Kommentarfunktion des Blogs habe er ebenfalls eingeschränkt.

Eine Antwort sucht Schwandt noch

Der Käpt’n ist auf Lesereise. Drei Tage, drei Städte; sein Leben als Senior sei „reichlich bewegend“. Er spüre „selbstverständlich die altersbedingten körperlichen Einschränkungen. Aber einen Termin pro Tag, den schaffe ich schon.“

Seine Heimat bleibt das Meer. Doch bestattet werden möchte er irgendwann an Land. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich eine Anlaufstelle brauche, wo ich trauern kann.“ So besuche er die Gräber seiner Geschwister regelmäßig. „Dann setze ich mich auf eine Bank und denke still vor mich hin. Und irgendwann stelle ich mir immer wieder die Frage: ,Würdest du heute gerne noch mal anfangen?’“ Die Antwort darauf, sagt der Käpt’n, habe er bis heute nicht gefunden.