Der mutmaßliche Attentäter von Boston ist wieder bei Bewusstsein. Laut Medienberichten reagiert der schwerverletzte 19-Jährige bereits auf Fragen der Ermittler. Todesursache des Bruders weiter unklar.

Boston/Washington. Aufatmen bei den Ermittlern des Anschlag von Boston: Der mutmaßliche Attentäter des Marathons ist nach Informationen mehrerer US-Medien wieder bei Bewusstsein. Der schwerverletzte 19-jährige Dschochar Zarnajew reagiere von Zeit zu Zeit auf die Fragen der Ermittler, berichtete der Sender ABC. Demnach schreibt er seine Antworten in seinem Krankenbett nieder. Laut dem Sender befragen ihn die Ermittler zu möglichen Komplizen und weiteren noch nicht explodierten Sprengsätzen.

Ähnliches berichteten auch die NBC News sowie die Zeitung „USA Today“ in ihrer Internetausgabe. Sie bezog sich auf anonyme Aussagen eines der Fahnder. Zu einer Anklage durch einen Bundesrichter kommt es nach den Medienberichten frühestens am Montag.

Der Bürgermeister von Boston, Thomas Menino, hatte wenige Stunden vorher noch Zweifel geäußert, ob Zarnajew jemals befragt werden könnte. Der 19-Jährige hat schwere Genickverletzungen. Die Ermittler vermuten, dass der gebürtige Tschetschene sich auf der Flucht durch einen Schuss in den Mund selbst töten wollte. Er wird im selben Krankenhaus behandelt wie die Verletzten der Bostoner Anschläge.

Dschochar Zarnajew und sein 26-jähriger Bruder Tamerlan sollen vor einer Woche den Doppel-Anschlag auf den Marathonlauf verübt haben, bei dem drei Menschen getötet und etwa 180 weitere verletzt wurden. Auf ihrer Flucht sollen sie einen Polizisten erschossen und einen weiteren Beamten schwer verletzt haben. Tamerlan Zarnajew starb bei der Verfolgungsjagd in der Nacht zum Freitag, sein jüngerer Bruder wurde einen Tag später schwerverletzt festgenommen.

Todesursache von Tamarlan weiter ungeklärt

Wie Tamerlan Zarnajew starb, konnte die Gerichtsmedizin von Massachusetts bis Sonntagabend noch nicht klären, wie ein Sprecher des Amtes für Öffentliche Sicherheit mitteilte. Nach Angaben der Polizei wurde Tamerlan am Freitag von seinem Bruder bei der Flucht überfahren.

Zarnajew wird im Beth Israel Deaconess Medical Center von Boston unter anderem wegen einer schweren Schusswunde am Hals behandelt und kann nicht sprechen. Der 19-Jährige werde beatmet und stehe unter Beruhigungsmitteln. Zuvor hatte es geheißen, es könne noch Tage dauern, bis er vernehmungsfähig sei. Der TV-Sender ABC News meldete, die Ermittler konzentrierten sich bei ihrem ersten Verhör auf die Frage, ob es noch weitere Komplizen oder versteckte Sprengsätze gebe.

Fahnder der Bundespolizei FBI mutmaßten, dass der 19-Jährige sich die Schusswunde am Hals selber zugefügt haben könnte, um sich vor seiner Ergreifung durch die Polizei am Freitag das Leben zu nehmen. Zarnajew liegt unter schwerer Bewachung in der Klinik, in der auch elf der Opfer des Attentats vom vergangenen Montag liegen. Rund 40 weitere Verletzte werden noch immer in anderen Krankenhäusern der Stadt im Bundesstaat Massachusetts behandelt.

Zarnajew muss mit der Todesstrafe rechnen

Zarnajew, soll nach Aussagen der Ermittler frühestens am (heutigen) Montag von einem Bundesrichter angeklagt werden. Da er sich in einem derart kritischen Zustand befinde, werde der Richter oder ein Vertreter ihn an seinem Krankenbett über die Anklagepunkte informieren. Die Anklageverlesung werde dann später erfolgen.

Mehrere republikanische Senatoren hatten gefordert, Dschochar Zarnajew als „feindlichen Kämpfer“ einzustufen. Damit hätte der Verdächtige den gleichen Status wie die Terrorverdächtigen, die im umstrittenen US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba inhaftiert sind. Rechtsexperten halten das aber für nicht möglich, weil der Verdächtige die US-Staatsbürgerschaft hat.

Senator Lindsey Graham stellte inzwischen klar, dass er nur für die Vernehmung als „feindlicher Kämpfer“ eingestuft werden, sein Prozess dann aber vor einem Zivilgericht stattfinden sollte. Dies würde bedeuten, dass Zarnajew in den ersten Tagen nicht über sein Recht zu Schweigen und auf anwaltlichen Beistand aufgeklärt wird.

Der Verdächtige muss mit der Todesstrafe rechnen. Massachusetts hat sie zwar abgeschafft, die USA als Staat aber nicht. Der TV-Sender CNN zitierte einen Beamten aus dem Justizministerium mit den Worten, Zarnajew müsse sich wohl nach Bundesrecht wegen Terrorismus verantworten und nach Landesrecht wegen Mordes. Streitpunkt war auch, ob Zarnajew bei seiner ersten Anhörung ein Recht zu schweigen oder auf einen Anwalt hatte. Das Justizministerium hatte vorläufig entschieden, ihn ohne diese sogenannten „Miranda-Rechte“ zu vernehmen. Eine Ausnahmeregelung macht dies möglich, wenn unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung besteht und der Festgenommene als „feindlicher Kämpfer“ identifiziert ist.

Brüder planten weitere Anschläge

Die mutmaßlichen Bombenattentäter des Boston Marathons planten nach Auffassung der Ermittler womöglich noch weitere Anschläge. Wie der Bostoner Polizeichef Ed Davis am Sonntag dem TV-Sender CBS sagte, hätten die Beamten im Rahmen ihrer Verfolgung der beiden Brüder Tamerlan und Dschochar Zarnajew ein ganzes Arsenal hausgemachter Bomben und Materialien sichergestellt. „Wir haben auf Basis der gefundenen Beweise allen Grund zu der Annahme (...), dass sie noch weitere Menschen attackiert hätten“, so Davis.

Die selbstgebastelten Handgranaten und Sprengsätze hätten die Brüder während der Verfolgungsjagd in der Nacht zum Freitag auf die Polizisten geschleudert. Die Ermittler versuchten nun herauszufinden, wie und wo sie an ihre Waffen und Sprengsätze gekommen seien.

Rätseln über Drahtzieher in Russland

Genau eine Woche nach dem Anschlag waren die Bewohner des US-Staates Massachusetts am (heutigen) Montag aufgerufen, der Opfer zu gedenken. Bostons Bürgermeister Thomas Menino und Gouverneur Deval Patrick riefen zu einer Schweigeminute um 20.50 Uhr (MESZ), dem Zeitpunkt der Explosionen, auf. Anschließend sollen in ganz Massachusetts die Kirchenglocken läuten.

Unterdessen rätseln die Ermittler, ob Zarnajew und sein getöteter Komplize und Bruder Drahtzieher im Rücken hatten. Das FBI hatte Tamerlan 2011 als „radikalen Islamisten“ im Visier. Wie das FBI nach der Festnahme mitteilte, hatte die Bundespolizei ihn auf Wunsch einer ausländischen Regierung überprüft. Laut US-Medien bestätigte die Behörde inzwischen, dass es sich dabei um Russland gehandelt habe. Das Ersuchen habe sich auf Informationen gestützt, wonach Tamerlan dem radikalen Islam anhänge und sich von 2010 an drastisch verändert habe. Zuletzt habe er Vorbereitungen getroffen, die USA zu verlassen, um sich Untergrundgruppen in Russland anzuschließen, hieß es. FBI-Agenten verhörten damals ihn und Familienangehörige.

Die Bundespolizei nahm ihre Untersuchungen allerdings nicht wieder auf, als Zarnajew im Sommer 2012 von einer sechsmonatigen Reise nach Dagestan und Tschetschenien in die USA zurückkehrte, wie Mitarbeiter einräumten. Nach Recherchen des investigativen Reporternetzwerks „Pro Publica“ und der „New York Times“ hatte sich Zarnajew nach seiner Rückkehr sichtbar radikalisiert. Auf der Internetplattform Youtube stellte er islamistische Videos ein. Wie CNN am Sonntag meldete, war darunter auch das Video eines tschetschenischen Dschihadisten. Unklar sei, ob es einen Kontakt zwischen beiden Männern gab.