Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Ein Thema, das viele bewegt - auch mit Blick auf den Evangelischen Kirchentag.

Hamburg, die Stadt der Reichen (40.000 Millionäre) und der Armen (50.000 Kinder leben von Hartz IV). Wie groß ist die Schere zwischen Arm und Reich? Fragen, die sich engagierte Bürger stellen. Ein Thema auch beim Abendblatt-Empfang, vor allem mit Blick auf ein Großereignis 2013 in Hamburg: den Deutschen Evangelischen Kirchentag. 100.000 Gäste werden in den ersten fünf Maitagen in der Stadt sein - und diskutieren: Wohin steuert unsere Gesellschaft? Wie viel Lohn ist gerecht? Das Kirchentags-Motto klingt wie eine Antwort: "Soviel du brauchst". Aber Zehntausenden Hamburgern fehlt im Alltag das Nötigste. Rund zwölf Prozent sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Hat Hamburg ein Armutsproblem? Wo bleibt die Verantwortung derer, denen es bessergeht?

In kaum einer anderen Stadt engagieren sich wohlhabende Bürger so stark wie in Hamburg, lobt der aus München stammende Prof. Hermann Reichenspurner, Leiter der UKE-Herzklinik. Hier gebe es nicht nur in der traditionellen Kaufmannschaft viele, die sich sozial engagieren. Reicht das?

Wie kann eine Spaltung der Stadt verhindert werden? Prof. Michael Göring, Chef der "Zeit"-Stiftung, sieht den Mittelstand in der Schlüsselrolle, er müsse gefördert werden. Nach Besuchen in Lateinamerika, Südafrika und Indien sei er überzeugt: Dort brechen Gesellschaften auseinander, weil es den Mittelstand nicht mehr gibt und nur Arme und Reiche übrig bleiben.

Hält er den Mittelstand bei uns für gefährdet? "Nein, das halte ich für übertrieben, aber es gibt Tendenzen." Die Schwere zwischen Arm und Reich sei hierzulande nicht so weit auseinander gegangen, wie viele glaubten. Heute stünden etwa sechs Prozent ganz oben auf der Einkommensleiter, gegenüber vier Prozent vor 20 Jahren. Ganz unten seien es acht bis neun Prozent, gegenüber fünf bis sechs Prozent vor 20 Jahren. Laut OECD ist arm, wer weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens hat. "Armut ist auch ein gefühltes Phänomen", meint Göring. Wer bei uns als arm gelte, sei in den Augen der Menschen anderer Länder gut dran, aber das helfe den Betroffenen leider nicht. Johanna von Hammerstein, Vorstandsvorsitzende der Bürgerstiftung Hamburg, nennt die Spaltung zwischen Arm und Reich "dramatisch". "Ich erlebe, wie wohlhabend die Stadt ist, dennoch gelingt es uns nicht, die andere Seite zu erreichen. Jeder, der am Rand der Gesellschaft steht, ist einer zu viel und muss in die Mitte geholt werden."

Budni-Chef sieht Gefahr sozialer Unruhen

Auch Hauptpastorin und Pröpstin Ulrike Murmann sieht "ein großes Problem in Hamburg". Hier würden zwei Welten nebeneinander existieren. "Ich wünsche mir Projekte, bei denen sich Wohlhabende und Arme begegnen."

Cord Wöhlke, Geschäftsführer der Drogeriekette Budnikowsky, sieht wegen der Spaltung zwischen Armen und Reichen die Gefahr, dass "die Kriminalität steigt und soziale Unruhen drohen". Um das zu verhindern, fordert er "vor allem mehr Bildung für Kinder aus bildungsfernen Schichten". "Um das zu finanzieren, müssen die oberen Schichten Opfer bringen in Form einer Bildungssteuer. Ich denke, dass viele Geld geben würden, wenn sie wissen, dass die Steuer dafür ausgegeben wird." Für höhere Abgaben spricht sich auch Polizei-Vizepräsident Reinhard Fallack aus. Jahreseinkommen über 500.000 Euro Einkommen könnten höher besteuert werden. Außerdem befürwortet er "einen gesetzlich fixierten Mindestlohn für Geringverdiener". Wer Armut bekämpfe, mindere Kriminalität. Manche Taten würden nicht begangen, "wenn Betroffene acht Stunden am Tag arbeiten und vernünftig entlohnt würden".

"Wir brauchen auskömmliche Löhne, aber wie die erreicht werden, ist Sache der Politik", meint Weihbischof Hans-Jochen Jaschke. Der Kirchentag werde ein Bewusstsein dafür schaffen, "damit die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht".

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Fernsehkoch Christian Rach, der Problemjugendlichen mit Ausbildungsstellen in der Gastronomie hilft, verlangt von den Unternehmern, "sich der Schwachen anzunehmen". Hamburg gelte zwar als Stadt der Mäzene, "aber bei meinen sozialen Projekten ist noch keiner gekommen und hat Unterstützung angeboten". Für Krimi-Autorin Petra Oelker, deren Romane oft im 18. Jahrhundert spielen, ist die Armenspeisung von damals durch die Patriotische Gesellschaft ein Vorbild: "Heute lebt dieses Bewusstsein fort", und nennt die Hamburger Tafel. Freundin und Krimi-Autorin Carmen Korn erlebt den Wandel in ihrer Nachbarschaft auf der Uhlenhorst, wo Normalverdiener verdrängt würden, weil Wohnungen zu teuer werden. "Das Überleben im Mittelstand ist härter geworden."

Es gebe "keine Patentrezepte", sagt Grünen-Politikerin Krista Sager. Auch der "überfällige Mindestlohn" verhindere die Spaltung nicht, sondern sorge nur dafür, "dass jene, die Arbeit haben, so etwas wie Mindestfairness erleben". Gute Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen seien ein Schlüssel, um auszugleichen, was vom Elternhaus nicht geleistet werden könne. Gabriele Wöhlke, Vorstandsvorsitzende der Budnianer-Hilfe, ergänzt: "Damit Frauen nicht in Armut abrutschen, müssen wir es als Stadt schaffen, dass sie Beruf und Kinder unter einen Hut bekommen."