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Viele Regierungsfehler: Das Drama der CDU

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Matthias Iken
Der stellvertretende Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Matthias Iken.

Der stellvertretende Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Matthias Iken.

Foto: Funke Foto Services/ Andreas Laible

Hat Angela Merkels Politik Deutschland geschadet? Der stellvertretende Chefredakteur Matthias Iken hat dazu eine klare Meinung.

Hamburg. Die Physik diskutiert seit mehreren Jahren, ob es nicht nur ein Universum gibt, sondern vielleicht unendlich viele Parallelwelten – es ist die Theorie des Multiversums. Sie fasziniert nicht nur Quantenphysiker, Science-Fiction-Autoren oder Philosophen, sondern auch die Politik.

Denn was, so lautet die spannende Frage, wäre hierzulande aus der CDU geworden, wenn die Physikerin Angela Merkel ab ihrer zweiten Amtszeit nicht viele inhaltliche Kernforderungen ihrer Partei kurzerhand über Bord geworfen hätte? Sondern stattdessen etwas ganz Exotisches gemacht hätte, etwa CDU-Politik?

Matthias Iken: Das Drama der CDU

Damals galten die Ideen als vorgestrig, verzopft, rechts. Heute muss man eingestehen: Ganz falsch lag die Union mit ihrer Programmatik der 00er-Jahre nicht. Die Zeitenwende jedenfalls, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu Recht ausrief, wäre nicht so dramatisch ausgefallen. Und die berechtigten Warnungen eines Christian Lindner (FDP) vor mehreren Jahren der Knappheit und einer ernst zu nehmenden Wirtschaftskrise würden nicht so düster klingen.

Die CDU, die wiederum in aktuellen Umfragen heute bei 27 Prozent herumdümpelt, stünde wahrscheinlich bei einer absoluten Mehrheit. Denn sie hatte mit vielen Forderungen – hinterher ist man immer schlauer – recht. Es nützt nur nichts, weil Kanzlerin Angela Merkel ab 2009 die Parteiprogrammatik nonchalant abgeräumt hat. Lange dachten alle, diese inhaltliche Beweglichkeit schade nur der Sozialdemokratie. Inzwischen dämmert vielen: Sie hat auch der Bundesrepublik geschadet. Es steht zu befürchten, dass die Historiker über Merkels 16 Jahre im Kanzleramt dereinst deutlich kritischer urteilen werden, als die meisten politischen Beobachter es bis zum 24. Fe­bruar 2022 jemals getan haben.

Um es klar zu sagen: Betrachtet man nur die Wahlergebnisse, war die Politik der Kanzlerin erfolgreich. Ihr Vorgänger Gerhard Schröder hingegen war am Wähler gescheitert. Für das Land fällt die Bewertung gegensätzlich aus. Auch wenn sich heute alle am Sozialdemokraten abarbeiten: Schröders Reformen haben das Land vorangebracht, auch sein Nein zum Irak-Krieg hat die Geschichte bestätigt. Langfristig ermöglichte Kanzler Schröder Deutschland gute Jahre.

Merkels Reformen hingegen waren oft Kurzschlussentscheidungen, die dem Land jetzt auf die Füße fallen: Es war der kopflose Ausstieg aus der Atomenergie, den sie nach einem Tsunami in Japan verfügte, es war die politisch gewollte finanzielle und gesellschaftliche Erosion der Armee, und es ist die wachsende Abhängigkeit von Russland. Der Fairness halber sei erwähnt, dass diese Politik stets die Mehrheit hinter sich wusste. Der Ordnung halber aber sei hinzugefügt, dass nichts von Merkels Politik jemals in einem Wahlprogramm der Union stand.

SPD und Grüne waren für russisches Gas

Ein Blick zurück: Der Hamburger CDU-Senat rechtfertigte den Bau des Kohlekraftwerks Moorburg damals mit dem Verweis auf die politische Lage in Russland, um „eine Abhängigkeit vom Erdgasmarkt“ zu verhindern. Das war 2007, wohlgemerkt. Die Opposition aus SPD und Grünen trommelte damals in der Bürgerschaft laut für russisches Gas.

Bald trommelte auch die Union in Berlin mit. Und so stieg der russische Anteil an den Gasimporten stetig von unter 40 Prozent auf 55 Prozent. 2013 forderte die Union im Wahlkampf, Fracking – die Förderung von Schiefergas – unter bestimmten Auflagen zu ermöglichen, um es dann an der Regierung 2016 zu verbieten. Nun importieren wir bald Fracking-Gas über Tausende von Kilometern aus den USA. Auch der bemitleidenswerte Zustand der Bundeswehr, die mit 100 Milliarden Euro erst einmal kampffähig gemacht werden muss, fiel nicht vom Himmel. Viele Militärs halten Peter Struck (SPD) für den letzten guten Verteidigungsminister – seit 2005 versuchten sich CDU-Politiker auf der Hardthöhe. Auch die Aussetzung der Wehrpflicht war übrigens eine Idee, die nie im Parteiprogramm zu finden war.

Programmatisch richtig, handelnd falsch

So ergibt sich für die Union das Drama, programmatisch meist richtiggelegen zu haben, im Regierungshandeln aber vieles falsch gemacht zu haben. So geht es einer Partei ohne Eigenschaften, die alles dem Erfolg unterordnet und nicht über den nächsten Wahlsonntag hinausdenkt. Die Strafe dafür: Heute sitzt die Union in der Opposition, regieren kann sie nur noch in irgendeiner Parallelwelt eines Multiversums.

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