Leitartikel

Vorsicht mit den Corona-Zahlen!

| Lesedauer: 4 Minuten
Lars Haider
Lars Haider ist Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.

Lars Haider ist Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.

Foto: Andreas Laible / HA

Hamburg wird auch nach RKI-Einordnung bald Risikogebiet – aber Angst sollte uns das nicht machen.

Hamburg. Diese Zahlen können einen verrückt machen. Was, mehr als 30.000 Neuinfektionen in Frankreich? Italien auch über 10.000? Dabei waren die doch immer so vorsichtig! Immerhin: In Dänemark geht es langsam wieder nach unten, und die haben die gleichen Maßnahmen wie wir in Deutschland eingeführt, nur deutlich früher. Aber was ist bloß in Delmenhorst los? 223 Fälle auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen – ein Wahnsinn.

Ja, es ist ein Wahnsinn, was sich da im Moment jeden Tag und überall abspielt. Corona-Zahlen sind inflationär geworden, und Psychologen haben recht, wenn sie wie jüngst im Hamburger Abendblatt raten, sich am besten nicht ständig auf den neuesten Stand zu bringen. Einmal am Tag reiche, einmal in der Woche wäre wahrscheinlich für unser Gemüt noch besser. Was bringt der ständige Blick auf die Zahlen der Pandemie außer schlechter Laune, Angst und schlaflosen Nächten?

Hamburg ist Risikogebiet – oder doch nicht?

Zumal es zunehmend schwerfällt, die vielen verschiedenen und manchmal widersprüchlichen Zahlen richtig zu deuten. Nehmen wir das Beispiel Hamburg, das von gestern auf heute zu einem Risikogebiet geworden ist – zumindest wenn man die Angaben der städtischen Gesundheitsbehörde als Maßstab nimmt. Die kommt auf eine Sieben-Tage-Inzidenz von 50,6, während das Robert-Koch-Institut Hamburg noch mit 42,9 führt.

Beides keine schönen Werte, aber im nationalen (siehe Delmenhorst) und internationalen Vergleich (Madrid!) nun auch keine Horrorwerte. Insbesondere dann nicht, wenn man berücksichtigt, dass in Hamburg am Tag doppelt so viele Corona-Tests durchgeführt werden wie in München, das schon vor Langem die kritische 50er-Marke gerissen hat.

Corona in Hamburg, Deutschland und weltweit – die interaktive Karte

Grundsätzlich stimmt natürlich, dass der Kampf gegen die Pandemie in den großen Städten entschieden wird und nicht auf dem Land. Ein Beleg: Der Kreis Schleswig-Flensburg, ganz hoch im Norden, hat seit Beginn der Pandemie etwa so viele Corona-Fälle verzeichnet wie Hamburg in den vergangenen 48 Stunden. Bei uns in der Stadt sind insgesamt seit Start der Zählung 10.001 Tests positiv ausgefallen.

Aber was sagt das wirklich über die Zahl der Infizierten aus? Ihre Dunkelziffer könnte dreimal, fünfmal oder zehnmal so hoch sein, niemand weiß es. Und sind 6000 bestätigte Neuinfektionen in Deutschland im März mit 6000 bestätigten Neuinfektionen im Oktober überhaupt vergleichbar?

Wir sollten mit Corona-Zahlen sachlich umgehen

Virologen wie Hendrik Streeck von der Universität Bonn haben Zweifel daran. Streeck sagt, dass uns auch 20.000 Fälle pro Tag nicht zwangsläufig Angst machen müssen. Und dass er von Hochrechnungen weiß, die davon ausgehen, dass es im Frühjahr statt der erfassten 6000 bis zu 60.000 Neuinfektionen pro Tag gegeben haben könnte.

Solche hohen Zahlen machen uns Angst, vor allem dann, wenn sie uns von Politikern entgegengeschleudert werden. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach etwa hat am Sonntag in einer Talksendung gesagt, dass Deutschland bei dem aktuellen R-Faktor zwischen 1,3 und 1,4 bis Weihnachten 50.000 Todesfälle im Zusammenhang mit Corona drohen. Was er nicht gesagt hat, ist, dass es dann von heute an im Schnitt jeden Tag rund 100.000 Neuinfektionen geben müsste …

Wie gesagt: Die Zahlen können einen verrückt machen. Und deshalb sollten wir alle so vorsichtig und sachlich wie möglich mit ihnen umgehen. Und wenn irgendeiner tatsächlich glaubt, damit zusätzliche Angst schüren zu müssen – danke, das ist nun wirklich nicht mehr nötig.

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