Hamburg. Matthias Iken: Im Brexit-Streit um das Nordirland-Zollabkommen haben die EU und Großbritannien einen Kompromiss gefunden, funktioniert Diplomatie doch immer noch?
Klaus von Dohnanyi: Aber klar, wenn man sich Mühe gibt, beide Seiten und ihre Interessen zu verstehen, dann ist Diplomatie die einzige Chance, um zu friedlichen Konfliktlösungen zu kommen. Nur leider scheint heute unsere Bundesregierung und insbesondere unsere naive Außenministerin von Diplomatie für den zentralen Konflikt, den Ukraine-Krieg, wenig zu halten. Man hat eine Überzeugung, und die hat recht, die andere Seite muss klein beigeben, dann hat man gewonnen, und alles ist gut. Natürlich war da der Zollstreit vergleichsweise kleine Münze, aber Diplomatie muss in jedem Konflikt Vorrang haben.
Iken: Die Einigung im Zollstreit wäre sicher nicht denkbar ohne das Karfreitagsabkommen von 1998, das den irischen Terrorismus beendete ...
Dohnanyi: Da sind Sie genau bei der Sache. Gäbe es heute noch irischen Terror an der Grenze zu Nordirland und irische Bombenattentate in London, wäre das friedliche Abkommen im Brexit-Gefolge undenkbar. Das Karfreitagsabkommen war ein Muster für Diplomatie in einer ausweglos erscheinenden Lage: jahrzehntelanger Terror und keine Bereitschaft zu reden; Verteufelung der jeweils anderen Seite. Und dann? Ein mutiger britischer Premier, Tony Blair, überschreitet alle innenpolitischen Tabu-Linien, und gemeinsam mit Präsident Clinton beauftragte man den erfahrenen Vermittler Senator George Mitchell, einen Kompromiss zu finden. Es wurde das Karfreitagswunder 1998. Am Ende schüttelten auch die Vertreter Nordirlands die Hände der ehemaligen Unterstützer des Terrorismus!
Iken: Könnten wir von der Nordirlandlösung heute etwas lernen?
Dohnanyi: Ja. Einmal: Je ernster ein Streit ist, desto weniger vertretbar ist die These: Mit dem Gegner reden wir nicht, der muss erst zu Kreuze kriechen und dann bestraft werden. Zum Zweiten: Wer selbst so hart betroffen ist wie wir, der ist verpflichtet, sich um eine Vermittlung zu bemühen; es ist doch seltsam, dass Israel, die Türkei und andere sich im Ukraine-Krieg als Vermittler anbieten, aber die EU selber glaubt, nur mit Panzern und Raketen zum Frieden zu kommen. Sind wir nicht souverän? Wir haben die Präsidentin der EU-Kommission nicht nur gewählt, um flaggenkonforme Kleidung zu tragen. Mutig sollte sie sich nach beiden Richtungen, Washington und Moskau, um Vermittlung bemühen. Der Krieg findet nämlich in Europa statt!
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Kolumnen