Hamburger Kritiken

Corona – neue Chance für die Apotheke der Welt

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Matthias Iken
Matthias Iken ist stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.

Matthias Iken ist stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.

Foto: Andreas Laible / HA

Früher war Deutschland führend bei der Medikamentenherstellung. Die Corona-Krise kann alte Stärken wieder beleben.

Wer Aktien besitzt, benötigt in diesen Tagen Langmut und Tapferkeit. Hinter der Börse liegen Wochen des Schreckens, die den DAX um 35 Prozent ins Minus beförderten. Doch nicht alle Aktien gingen auf Tauchstation. Einige wenige Werte explodierten geradezu im Wert: Die Papiere der rheinland-pfälzischen BioNtech sprangen von Rekordhoch zu Rekordhoch und verdoppelten sich. Die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die vom Coronavirus verursachte Krankheit Covid-19 ist offensichtlich so aussichtsreich, dass chinesische Investoren mit 40 Prozent eingestiegen sind.

Wenige Tage zuvor hatte das kleine Unternehmen CureVac die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf eine schwere Belastungsprobe gestellt. Die Biotech-Perle des Mäzens und SAP-Mitgründers Dietmar Hopp zählt zu den aussichtsreichsten Kandidaten für die Impfstoffentwicklung – die USA beabsichtigten Presseberichten zufolge sogar die Übernahme von CureVac. Und noch eine Firma von Dietmar Hopp konnte in den vergangenen Tagen ihren Wert zwischenzeitlich verdreifachen: Heidelberg Pharma. Deren Wirkstoff könnte ein Ansatz zur Behandlung der Lungenerkrankung Covid-19 sein. So schlecht, wie der Forschungsstandort gern gemacht wird, ist er also nicht.

Hier liegen die Wurzeln der pharmazeutischen Industrie

Wo stünde Deutschland, wenn es nicht nur einen Dietmar Hopp gäbe, sondern zehn oder gar 100? Dann wäre die Bundesrepublik das, was sie über Jahrzehnte war: die Apotheke der Welt. Hier liegen die Wurzeln der pharmazeutischen Industrie, hier wurden Wirkstoffe wie Phenacetin oder Aspirin entdeckt. Noch wer vor 30 Jahren um die Welt reiste, erkannte mancherorts die Apotheken am Bayer-Kreuz.

Heute importiert die Bundesrepu­blik viele wichtige Arzneimittel aus dem Ausland und spürt ihre Abhängigkeit, wenn in China ganze Chargen mit Krebserregern verseucht sind oder Indien wegen der Corona-Angst den Export untersagt. Die Apotheke am Ende der Welt hilft dann nicht mehr weiter.

Gleich mehrere Gründe sind für den Niedergang verantwortlich: Ein Kostendämpfungsgesetz nach dem anderen zwangen die Pillendreher fast dazu, auf die Globalisierung und Billigstandorte im Fernen Osten zu setzen. Hinzu kamen dramatische Fehler mancher Unternehmenslenker. Anfang der 1980er- Jahre war das deutsche Unternehmen Hoechst noch der größte Pharmahersteller der Welt. 1994 übernahm der Shareholder-Value-Jünger Jürgen Dormann die Firmenleitung. Sein „Hoechst Aufbruch“ wurde zu einem einzigartigen Abbruchunternehmen.

Fünf Jahre später fusionierte Hoechst mit der französischen Rhône-Poulenc zu Aventis und zog von Frankfurt nach Straßburg. Wiederum fünf Jahre später schluckte das französische Unternehmen Sanofi Aventis und schuf mit politischer Rückendeckung in Paris den größten Pharmakonzern Europas. Heute gilt auch Sanofi als aussichtsreicher Hersteller eines Impfstoffs gegen Covid-19.

Der härteste Schlag gegen die deutsche Pharmabranche

Es gehört zur Wahrheit, dass die Politik und die Gesellschaft am Untergang von Hoechst eine Mitverantwortung tragen – genauer gesagt spielte der damalige grüne Umweltminister Joschka Fischer von den Grünen eine unrühmliche Rolle. Eine von Hoechst bereits 1994 beantragte gentechnische Insulin-Produktion wurde von der Politik immer wieder behindert und von machen Aktivisten dämonisiert.

2006 sagte Dietmar Hopp dem Handelsblatt: „Den härtesten Schlag gegen die deutsche Pharmabranche hat Joschka Fischer zu verantworten, der in seiner Zeit als hessischer Umweltminister Hoechst zum Aufgeben in der Arzneimittelforschung in Deutschland gezwungen hat.“ Binnen Jahrzehnten hat sich der deutsche Anteil an der weltweiten Pharmaforschung halbiert. Damit fehlen dem Land Zehntausende Jobs in der Forschung.

Das ist verschütteter Kaffee. Entscheidend ist jetzt die Frage, wie sich die Volkswirtschaft auf ihre alten Stärken besinnen kann. Die Corona-Krise zeigt gerade wie unter einem Brennglas, warum sich Investitionen in Forschung und Entwicklung lohnen. Zugleich wird deutlich, dass an den Universitäten und Forschungsabteilungen immer noch viele kreative Köpfe unterwegs sind. Und die Technologiefeindlichkeit der Grünen ist auch passé – Hamburgs grüne Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank sieht die Chancen. Nach der Corona-Krise sollte noch mehr Fördergeld und Wagniskapital fließen, um die Apotheke der Welt wieder zu eröffnen.

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