Zum Start perlt Chopin. Die gefeierten französischen Pianistinnen Naïri Badal und Adélaïde Panaget schwingen an ihren Flügeln dahin.
Eine halbe Stunde später kracht Donner durchs Schlesische Stadion zu Chorzow. Die erfolgreichste, umstrittenste, mutigste deutsche Band spielt 25 Kilometer hinter Gleiwitz, wo Deutschland unter einem Vorwand vor 80 Jahren den Zweiten Weltkrieg begann und 40 Kilometer vor Auschwitz, wo eineinhalb Millionen Menschen ermordet wurden.
„Deutschland“, brüllt Sänger Till Lindemann. „Deutschland“, brüllt das Stadion zurück, Polen, Deutsche, Skandinavier, Fans aus aller Welt, ironisch, begeistert, skeptisch oder einfach so. Ein verstörender, magischer Moment, null aggressiv, eher ein kollektives Versöhnen mit dem Monstrum Mensch. Keinerlei Alkoholausschank übrigens.
Rammstein ist wohl bedeutendster deutscher Kulturbotschafter
Ein Rammstein-Konzert bedeutet einen epischen Abend voll verstörender, wüster, witziger Schönheit, dargebracht auf einer monströsen Wuchtbühne voller Blitz und Düsternis, Stahl und Feuer, Lebensgier. Wilde, ambivalente Momente sind das Kerngeschäft der Ostberliner Band, gegründet fünf Jahre nach dem Mauerfall und wohl bedeutendster deutscher Kulturbotschafter seither.
Kompromisse? Manager-Gelaber? Gefallenwollen? Nein. Kunst kommt von konsequent. Wo die Gabaliers über Eindimensionales wie Paarungsdruck und Heimatangst nicht hinauskommen, operiert Rammstein brachial auf widersprüchlichen symbolischen, provozierenden Ebenen, wirft in hypersensiblen Zeiten nur so um sich mit Sehnsucht, Wut, Liebe, Hass, Riechen, Reizen, Fühlen, all der Spannung, die Bayreuth gern mal wieder hätte.
Rammstein ist die ehrlichste Projektionsfläche hierzulande – alle fühlen was, und sei es nur dieses Unwohlsein zwischen Angst und Scham ob der eigenen Assoziationen. Mehr kann Kunst nicht leisten.
Zwei Stunden später sind 50.000 Menschen aufgeladen mit guter Energie, emotional befreit, zugewandt und verzaubert zugleich. Rammstein – große Oper, die erst aufwühlt und dann versöhnt.
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