Meinung
Leitartikel

Buch von Philipp F. übersehen? Eine große Panne

| Lesedauer: 4 Minuten
Der Tatort des Amoklaufs: Der Königreichsaal der Zeugen Jehovas an der Deelböge. Der Täter Philipp F. (eingeklinktes Bild) hat offenbar insgesamt 135 Schüsse abgegeben, bevor er sich selbst tötete.

Der Tatort des Amoklaufs: Der Königreichsaal der Zeugen Jehovas an der Deelböge. Der Täter Philipp F. (eingeklinktes Bild) hat offenbar insgesamt 135 Schüsse abgegeben, bevor er sich selbst tötete.

Foto: Michael Rauhe / Michael Rauhe / FUNKE Foto Services

Trotz des anonymen HInweises fiel der Waffenbehörde das Buch des Amokläufers nicht negativ auf. Das war ein fataler Fehler.

Hamburg. Die Hamburger Polizei hat bei ihrem Einsatz im Gotteshaus der Zeugen Jehovas in der vergangenen Woche Herausragendes geleistet. Eine Spezialeinheit war nur wenige Minuten nach Eingang der ersten Notrufe in Alsterdorf vor Ort.

Durch ihr sensationell schnelles Eingreifen, ohne Helme beherzt auch unter Einsatz des eigenen Lebens, konnten sie den Amoklauf stoppen und vermutlich weitere Tote verhindern. Hierfür gebührt der Polizei allerhöchste Anerkennung; sie wird auch nicht müde, diese Leistungen selbst immer wieder herauszustellen.

Getrübt wird der Glanz nun allerdings durch die Umstände der waffenrechtlichen Überprüfung des Mannes, der nur wenige Wochen nach dieser Kontrolle Ende Januar/Anfang Februar zum vielfachen Mörder wurde. Denn der anonyme Anzeiger wies nicht nur auf die psychische Erkrankung von Philipp F. hin, sondern explizit auch auf das Buch, das dieser im Dezember 2022 zu vermarkten begonnen habe.

Die zahlreichen antisemitischen Passagen darin, die Aussagen, Massenmord im Auftrag Gottes sei legitim und Adolf Hitler ein Werkzeug Jesu Christi gewesen, hätten eine psychologische Begutachtung des Waffenbesitzers mehr als nahegelegt.

Amoklauf in Hamburg: Buch von Philipp F. wies auf psychische Probleme hin

Es ist wohl so: Am Ende muss man hier von einer Panne sprechen. Bei ihrer Überprüfung googelten die Vertreter der Waffenbehörde den Mann und fanden – jedenfalls auf die Schnelle, nur mit Eingabe des Autorennamen und des Stichworts Buch und entsprechend den damaligen Algorithmen – keinen Hinweis auf das krude Werk.

Da allerdings zwingen sich kritische Fragen auf: Das Buch mit dem Titel „The Truth about God, Jesus Christ and Satan“ war seit dem 20. Dezember 2022 beim Anbieter Amazon gelistet. Wer nach einem bestimmten Buch sucht, kann schon mal auf den Gedanken kommen, beim Branchenführer nachzuschauen.

Die Beamten kannten auch die Internetseite des späteren Amokläufers, und dort wies er selbst auf sein Buch hin. Schließlich: Bei ihrem unangekündigten Hausbesuch fragten sie den Mann nicht nach dem Buch, mit dem der anonyme Tippgeber seinen Hinweis und die Möglichkeit von Wahnvorstellungen unter anderem begründet hatte.

Fehler zu suchen ist wichtig, um aus ihnen zu lernen

Diese Fragen brachten Polizeiführung und Ermittlungsleiter am Dienstag unter Druck, als sie die Öffentlichkeit über den Sachstand zum Amoklauf informierte.

Es stimmt: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Ein anonymer Hinweis wie der zu Philipp F. ist erst einmal einer von sehr vielen, bevor er dann erst im Lichte einer späteren Tat maximale Relevanz erhält. Und keineswegs geht es darum, einzelnen Beamten für Versäumnisse oder womöglich sogar deren Folgen verantwortlich zu machen.

Die Suche nach Fehlern im Behördenhandeln gehört zum Reflex von Medien, Öffentlichkeit und Opposition bei Taten wie diesen, sobald sich das erste Entsetzen gelegt hat. Und das hat seine Berechtigung. Denn es geht nicht darum, Polizeiarbeit madig zu machen oder Schuldige zu finden. Sondern darum, aus möglichen Fehlern für die Zukunft zu lernen und Abläufe zu verbessern.

Amoklauf: Wie kann es sein, dass Philipp F. 60 Magazine hatte?

Da gibt es Spielraum nicht nur beim Waffenrecht, sondern womöglich auch bei den Kontrollen. Warum sollte ein Sportschütze eine halbautomatische Waffe besitzen, wie sie Polizei und Bundeswehr benutzen? Wie kann es sein, dass er 60 Magazine hatte?

Polizeipräsident Ralf Martin Meyer stellte sich am Dienstag hinter die Waffenbehörde, fügte aber hinzu: „Mit dem Wissen von heute sage ich nicht, dass wir alles richtig gemacht haben.“ Er hat recht.

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