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Hamburger Kritiken

Politik muss sich mal unbeliebt machen

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Matthias Iken ist stellvertetender Chefredakteur des Abendblatts.

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Foto: Matthias Iken, stellvertretender Chefredakteur des Abendblatts / Funke Foto Services

Der Krieg hat viele Illusionen zerstört. Wenn wir unseren Wohlstand wahren wollen, müssen wir mehr arbeiten.

Es kommt nicht oft vor, dass ich mir den Kanzler Helmut Kohl zurückwünsche – das alles riecht nach 80er-Jahren, nach Rotkohl und Saumagen, Bohnerwachs und Spießigkeit. Aber der Mann ging keiner Debatte aus dem Weg und prägte so manchen Begriff. „Von deutschem Boden muss in Zukunft immer Frieden ausgehen“, sagte der Pfälzer. Eine Weisheit, die heute in Vergessenheit gerät.

Er konnte sogar scholzen: „Wahlkampf ist ein Marathonlauf. Es kommt nicht darauf an, wer am Anfang vorne liegt, sondern wer am Ende gewinnt.“ 1993 wiederum warnte Kohl, eine Nation mit Zukunft lasse „sich nicht als kollektiver Freizeitpark organisieren“. Das klang damals, als 3,5 Millionen Menschen arbeitslos waren und die Arbeitslosenquote 9,8 Prozent betrug, ziemlich zynisch.

Heute hingegen sollten wir über den Satz noch einmal in Ruhe nachdenken. Schauen wir auf die Fakten: Mit 30 Tagen sind die Deutschen gemeinsam mit den Dänen Urlaubs-Europameister. Nachbarn wie die Niederlande, Norwegen oder auch Italien gönnen sich mindestens eine Woche weniger Auszeit vom Job. Auch bei den Arbeitszeiten liegen die Deutschen dort, wo sie sich derzeit häuslich einrichten: auf den hinteren Rängen.

Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes betrug die durchschnittliche geleistete Wochenarbeitszeit von 20- bis 64-jährigen Erwerbstätigen hierzulande 35,3 Stunden. Das sind mehr als zwei Stunden weniger als im EU-Durchschnitt. Während die Deutschen das alte Ziel der 35-Stunden-Woche also fast verwirklicht haben, arbeiten Griechen im Schnitt 41,3 Wochenstunden. Zahlen helfen, Vorurteile zu heilen. Allerdings hat unsere niedrige Arbeitszeit auch etwas mit einer hohen Quote von Teilzeitbeschäftigten zu tun: Hier lag Deutschland im EU-Vergleich mit 29 Prozent auf Platz vier.

Politik muss sich mal unbeliebt machen

Arbeiten wir jedenfalls insgesamt länger als die anderen? Auf die Frage gibt es zwei Antworten. Theoretisch ja, praktisch nein. Zwar liegt das Renteneintrittsalter mit nun 65,7 Jahren in Deutschland höher als bei vielen Nachbarn, mit einem tatsächlichen Rentenbeginn mit 63,1 Jahren aber unter dem OECD-Durchschnitt. Und während Dänen inzwischen die Rente mit 74 und die Italiener den Ruhestand mit 69 anpeilen, mag man in Deutschland nicht einmal laut darüber nachdenken. Arbeitsminister Heil sprach kürzlich noch von einer „Phantomdebatte, bis 70 arbeiten zu wollen oder zu sollen“.

Kein Phantom ist hingegen der Arbeitskräftemangel, der sich dramatisch zuspitzt. An den Schulen fehlen Lehrer, auf den Baustellen Handwerker, in den Behörden die Experten. Wer glaubt, dass Zuwanderung von Fachkräften ein Allheilmittel ist, dürfte schief gewickelt sein – denn viele Staaten werben um junge, engagierte Köpfe. Ob es für sie so attraktiv ist, hohe Steuern zu bezahlen, damit sich die Einheimischen einen lauen Lenz machen können? Da beschleichen mich Zweifel. Und falls die Fachkräfte doch kommen, wird es trotz aller Motivation dauern, bis sie eine Hilfe sind.

Kurzfristig werden wir unseren Wohlstand nur halten können, wenn wir bereit sind, mehr und länger zu arbeiten. Die alte Strategie, mit Arbeitszeitverkürzungen die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, war nicht verkehrt, sondern solidarisch. Nun aber verlangt die Solidarität das Gegenteil: Wir müssen mehr und länger arbeiten, damit auch junge Leute sichere Jobs finden. Längst gefährdet der Fachkräftemangel viele Unternehmen. Wenn sie keine Perspektive mehr in Deutschland sehen, werden sie schließen oder verlagern.

Die Politik hat im vergangenen Jahrzehnt kaum einen Fehler ausgelassen

Leider hat die Politik im vergangenen Jahrzehnt kaum einen Fehler ausgelassen – und auch die Ampel macht munter weiter im Irrglauben, im Himmel sei ewiger Jahrmarkt. Oder wie konnte man auf die Idee der Rente mit 63 kommen? Oder auf ein Bürgergeld, das den Anreiz zur Arbeit absenkt? Warum entlastet man auch Gutverdiener mit der Gießkanne, statt angesichts der Krise die Bereitschaft zu wecken, vielleicht mehr zu arbeiten?

Genau darum muss es gehen: Wer heute als Rentner bereit ist, wieder zu arbeiten, wer als Teilzeitkraft seine Arbeitszeit ausweiten will oder als Langzeitarbeitsloser einen Job aufnimmt, muss gefördert werden. Hier kann der Finanzminister mit einer Steuerbefreiung Anreize setzen, die allen helfen – und das schnell. Eine Nation mit Zukunft lässt sich eben nicht als kollektiver Freizeitpark organisieren.

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