Meinung
Leitartikel

Chaotische Zustände in den Kliniken – kein Herz für Kinder

| Lesedauer: 3 Minuten
Stellvertretender Chefredakteur Matthias Iken.

Stellvertretender Chefredakteur Matthias Iken.

Foto: Andreas Laible

Der Umgang mit der Corona-Pandemie hat es gezeigt: Die Jüngsten der Gesellschaft haben keine Lobby.

Hamburg. „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu Beginn der Pandemie. Der CDU-Politiker machte damals klar, dass angesichts der Größe der Herausforderung und der Überschaubarkeit unserer Erkenntnisse über Covid-19 schwere Fehler fast nicht zu verhindern sind. Und so ist es auch wohlfeil, mit dem Wissen von heute die Fehler von damals anzuprangern.

Kein Herz für Kinder: Eine ganze Generation unzumutbar belastet

Etwas anderes aber ist es, wenn hinter der Corona-Politik eine ganze Fehlerkette steht, ein blinder Fleck. In der nötigen Bekämpfung der Pandemie haben Politik, Medien und Gesellschaft eine ganze Generation unzumutbar belastet. Um Risikogruppen zu schützen, wurde Kindern und Jugendlichen über Monate das Recht auf Bildung, das Recht auf Freizügigkeit, ja das Recht auf Kindsein genommen.

Und wenn jetzt – als mögliche Spätfolge der Maskengebote – die Kinderkliniken an den Rand der Belastung stoßen, zucken wir mit den Achseln. Der Kinderärzte-Chef Thomas Fischbach hält Corona-Schutzmaßnahmen wie Kontaktverbote, Masken und Kita-Schließungen für mitverantwortlich für den derzeitigen Ausbruch an RSV-Infekten bei Kindern. „Die Zustände in den Kliniken und bei Kinderärzten sind chaotisch – in Niedersachsen ist jede dritte Intensivstation für Kinder voll ausgelastet. Es steht klar zu befürchten, dass Kinder sterben könnten, wenn die Versorgungssituation nicht schnellstmöglich verbessert wird“, warnte ein Arzt.

Für die Zuspitzung in Kinderkliniken gibt es keine Sondersendungen

Es ist erst ein Jahr her, als die Lage der Intensivstationen uns keine Ruhe ließ. Vor 13 Monaten etwa meldete der Rundfunk, es ließe sich schon ausrechen, wenn „die Intensivstationen im ganzen Land voll sein werden“ und es „jeden Tag Hunderte Tote geben“ werde. Damals gab es kein anderes Thema als Corona. Für die Zuspitzung in den Kinderkliniken gibt es keine Sondersendungen.

Sind uns Kinder nicht so wichtig? Zumindest gibt es eine Unwucht in der Wahrnehmung. Ihre Interessen spielten nie eine große Rolle – bis heute. Als andere Länder Corona längst neu bewertet hatten, verharrten wir im Katastrophenmodus. Wir hingen an den Lippen der Virologen, die alles über Viren wissen, und ignorierten Epidemiologen, die die gesellschaftlichen Folgen im Blick haben. Die abgesperrten Flatterbänder auf Kinderspielplätzen, die polizeiliche Jagd auf Jugendliche, die sich im Park trafen – zu Corona ist in diesem Land einiges verrutscht.

Kinder und Jugendliche galten als „Virenschleudern“

Kaum ein Land hat die Schulen so lange geschlossen wie Deutschland. Über Monate ruhte das Vereinsleben, gab es keine Sport- und Kulturangebote, keine Klassenfahrten – mit fatalen psychischen und physischen Folgen. Und kein anderes Land wäre wie das Kanzleramt im November 2020 auf eine Idee wie die „Ein-Freund-Regel“ gekommen – junge Menschen sollten sich „nur noch mit einem festen Freund in der Freizeit“ treffen.

Dabei hatten schon Monate zuvor Virologen wie der Hamburger Jonas Schmidt-Chanasit herausgestellt, dass Kinder keine Rolle in der Verbreitung des neuartigen Coronavirus spielen. Trotzdem hat die Politik die Schulen Monate später wochenlang geschlossen -- gegen klare Empfehlungen der Fachleute. Sie aber drangen nicht durch im Wettlauf der Angstmacher in Politik und Medien. Ohne Beleg galten Kinder und Jugendliche als „Virenschleudern“, Schule als „Drehkreuz der Infektionen“. Heute sind wir klüger – und sehen, was wir angerichtet haben. Wir werden uns viel verzeihen müssen, das stimmt. Wir werden auch viel aufarbeiten müssen. Und die Wiedergutmachung starten – in der Kindermedizin können wir anfangen.

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