Hamburg. Die Nacht war frisch. Aber wärmendes Papier ist griffbereit. Es war eine verwegene Idee, meine Zunge an der Papiertonne festzukleben. Papiertonne, genau. Nicht Altpapier. Das wäre Diskriminierung von Betagtem, lupenreiner Seniorismus. Die Nachbarn steigen vorsichtig über mich. Ich führe in Gedanken Strichliste, wer wie viele leere Weinflaschen abwirft. Zweiter Stock. Mehr sage ich nicht.
Ich protestiere. Gegen dieses Reklameheft am Sonnabend, das ungelesen in die Tonne fliegt. Millionenfach eingeschweißtes Papier, ungetrennt. Mikroplastik von morgen. Ich lehne das ab. Seit Klebestart habe ich bereits große Erfolge erzielt: Bierhoff weg. Raphael Warnock hat Georgia gewonnen. Und Marokko gegen Spanien. Die Armbinde mit Klettverschluss ermöglicht flexibles Reagieren auf die Tagesmoral.
Einsamer Protest ist der edelste
Die nette Nachbarin, die dreimal im Jahr nach Alaska fliegt, um die Inuit vor dem Klimawandel zu retten, erzählte mir gestern von einem jungen Mann, der sich im Tiergarten an einen Baum getackert hat, mit dem Ohr. Das ist fast schmerzfrei, sofern die bestehenden Piercinglöcher getroffen werden. Er wollte das Nest eines Raubvogels schützen, das er in der Krone ausgemacht hatte. Leider eine Mistel. Egal. Einsamer Protest ist der edelste. Die erreichbaren Teile der Rinde sind allerdings langsam abgenagt.
Morgen kommen die Papiertonnenleerer. Die Kameras sind ausgerichtet. Ob sie mich mitsamt der Tonne wegtragen, ob sie ein Stück blaues Plastik aussägen und mich damit sitzen lassen oder die Tonne gar nicht erst leeren – es werden dramatische Bilder. Der Film geht viral, und Menschen aus aller Welt werden spenden.
Ein Protest für die Menschheit
Wenn nur eine Million je einen Euro gäbe. Oder zwei. Falls das nicht klappt, protestiere ich umgehend für einen Tarifvertrag: 35 Stunden die Woche sind genug. Ich protestiere ja nicht für mich, sondern für die Menschheit, auch für die, denen das Grundrecht auf Protest genommen wird, etwa durch eine Klebstoffallergie. Großartig, ein Stück Weltgeschichte mitzuschreiben. Rosa Parks. Rudi Dutschke. Ich.
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