Hamburg. Es gehört in Deutschland fast schon zum guten Ton, sich über die Fußball-WM in Katar aufzuregen, und es ist so wunderbar einfach, weil das Land und seine Menschen weit weg sind und man trotz aller Berichterstattung nur wenig darüber weiß. Also bedient man sich des Schwarz-Weiß-Schemas, das in Deutschland häufig benutzt wird, wenn es um die Bewertung anderer Staaten geht: Entweder ist alles schlecht oder alles gut, Letzteres allerdings deutlich seltener.
Mit irgendetwas dazwischen, also mit Grautönen, tun wir uns schwer, übrigens gern vor großen Sportereignissen wie Olympischen Spielen oder, wie jetzt, einer Fußballweltmeisterschaft. Wobei es mit der Empörung über Menschenrechtsverletzungen im Ausrichterland schnell vorbei war, wenn der erste Deutsche eine Goldmedaille um den Hals hängen oder die Nationalmannschaft das erste Spiel gewonnen hatte. Ich bin gespannt, wie viele derjenigen, die jetzt vehement fordern, die WM in Katar nicht zu unterstützen, am Ende doch vor dem Fernseher sitzen, zumindest, wenn das eigene Team spielt.
WM 2022: Deutschland ist bereits Weltmeister – im An- und Ermahnen
Wir sind bereits jetzt Weltmeister im An- und Ermahnen, wir setzen überall wie selbstverständlich unsere eigenen moralischen Wertvorstellungen voraus, und kritisieren sehr offen, was uns an diesem oder jenem Staat beziehungsweise dessen Regime nicht gefällt. Das ist sicher richtig so, aber es ist in Teilen leider nicht immer aufrichtig.
Das beginnt damit, dass der Deutsche Fußball-Bund nicht ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hat, die WM in Katar zu boykottieren, und es endet bei Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, dem das Land als Lieferant von Gas mehr als gut genug ist.
Konsequenz sieht anders aus, und das gilt für ganz viele Beziehungen, die Deutschland mit und zu anderen Ländern hat. Aus deren Sicht dürften wir nicht selten als Besserwisser rüberkommen, als ein Volk, das sich über andere moralisch erhebt, obwohl es dazu nicht immer einen Grund hat. Was wird man in Katar über einen Gast denken, der so viel zu meckern hat, es aber nicht erwarten kann, endlich Gas zu bekommen, gern billig? Vielleicht, dass er selbst nicht das macht, was er von anderen verlangt?
Katar: Durch Vergabe der WM hat sich einiges im Land verändert
Wenn wir nur noch mit Ländern handeln und Fußball spielen, die genauso ticken wie wir, würden selbst Partien mit Österreich und der Schweiz schwierig. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir auf dieser Welt in der Mehrheit von Staaten umgeben sind, die sich in eine andere Richtung als wir entwickeln, und verstehen, dass es nicht klug wäre, den Kontakt zu ihnen abzubrechen.
- Vom Extrem-WM-Fan zur Abstinenz: Das Ende einer Leidenschaft
- DFB vs. Infantino: Das erste Spiel hat Deutschland gewonnen
Den russischen Angriffskrieg in der Ukraine haben viele hierzulande als Anlass genommen, vom Prinzip „Wandel durch Handel“ abzurücken, und im Fall Russland ist das auch verständlich. Grundsätzlich bietet die Globalisierung, also die Verzahnung von unterschiedlichen Partnern, nach wie vor große Chancen. Wer Menschen zuhört, die sich in Katar und der Region auskennen, erfährt, dass sich durch die Vergabe der WM einiges im Land verändert und verbessert hat, selbst bei den oft kritisierten Lebensbedingungen von Gastarbeitern. Und dass die Einheimischen sich freuen, die Gelegenheit zu bekommen, sich der Welt so zu zeigen, wie sie sind.
Wohlstand in Deutschland verdanken wir Staaten, an denen wir Kritik üben
Es ist gut, miteinander im Gespräch zu bleiben, andere Länder und Menschen kennenzulernen und voneinander zu lernen, und es ist für ein Land wie die Bundesrepublik alternativlos. Unsere wirtschaftliche Stellung haben wir vielen jener Staaten zu verdanken, über die wir uns so oft echauffieren.
Um es klar zu sagen: Wir kritisieren zum Teil andere Länder für Dinge, etwa die zu geringen Löhne oder die miserablen Arbeitsbedingungen, ohne die es den Wohlstand, den wir in Deutschland genießen, gar nicht geben würde. Das sollten wir, wenn wir Debatten wie jetzt führen und uns dabei gerieren wie der moralische Sieger, nicht vergessen.
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Meinung