Hamburg. 2022 wird das Jahr, das uns alle Gewissheiten raubt – die Gewissheit, dass es in Europa keine Kriege mehr gibt, dass Wladimir Putin ein rationaler Politiker ist, die Gewissheit, dass unsere Energiewende eine prima Idee ist und unser Wohlstand sicher ist. Angesichts dieser Sicherheiten, die wegschmelzen wie Schneeflocken Mitte August, verwundert die Gewissheit, mit der einige Menschen noch immer unterwegs sind.
Ob in Brüssel Ursula von der Leyen, ob in Berlin Annalena Baerbock oder Friedrich Merz, sie alle scheinen sich sehr sicher zu sein, dass immer mehr Waffen diesen grausamen Krieg beenden können. Die grüne Bundesaußenministerin überraschte die Heimatfront nun mit einer Aussage, für die früher auf Parteitagen Farbbeutel flogen: Die deutschen Waffenlieferungen, so sagte sie der „FAZ“, „helfen offensichtlich sehr deutlich, Menschenleben zu retten“.
Niemand redet mehr von Verhandlungen
Eine menschenrechtsgeleitete Außenpolitik sollte sich ständig fragen, „wie wir durch weitere Lieferungen helfen können, noch mehr Dörfer zu befreien und damit Leben zu retten“. Wie weit wären wir mit dieser menschenrechtsgeleiteten Politik wohl im Kalten Krieg gekommen, als sowjetische Panzer durch Ost-Berlin, Prag und Budapest rollten und Zivilisten ermordeten?
Heutzutage verbietet sich offenbar schon diese Frage. Die lebensgefährliche Eskalationslogik dieses Krieges hat auch uns erfasst. Zweifellos haben die Russen die Ukraine völkerrechtswidrig überfallen, durch Kriegsverbrechen und nun die Teilmobilmachung die Eskalationsschraube angezogen. Aber müssen wir deshalb folgen? Haben wir je innegehalten und das Morden diplomatisch zu stoppen versucht? Von Verhandlungen redet heute niemand mehr, nur von menschenrechtsorientierter Außenpolitik, die auf Panzerketten rollt.
Wir taumeln in eine immer größere Krise
Mediale Militärexperten, deren Strategiekenntnisse sich bis Februar 2022 auf die Lektüre von „Herr der Ringe“ beschränkten, wissen heute ganz genau, was richtig ist – nämlich mehr Waffen und immer schwerere Waffen. Wehrdienstverweigerer erzählen Bundeswehrgenerälen, was zu tun ist. Und Leute, die bei Deutschland-Flaggen Beklemmung bekommen, können gar nicht oft genug ihre blau-gelbe Fahne in den Wind hängen.
Wir erleben eine Verkürzung des Diskurses, der brandgefährlich ist. Wir taumeln Schlafwandlern gleich in eine immer größere Krise. Bislang hat unsere Strategie den Krieg nicht beendet, aber den Frieden immer schwieriger gemacht. Beim Minsker Abkommen waren Deutschland und Frankreich Vermittler, inzwischen fehlt nicht viel – und wir werden zur Kriegspartei.
Wir haben die Folgen für uns kalkuliert
Und so wenig, wie wir die geopolitische Lage zu Ende gedacht haben, haben wir die Folgen für uns kalkuliert. Es soll ja Menschen geben, die schon diese Frage unanständig finden. Es steht zu hoffen, dass sie nach dem Winter bei dieser Meinung bleiben können. Mit dem Ukraine-Krieg riskieren wir hierzulande – auch das ist Teil der Wahrheit – unseren Wohlstand und unsere soziale Stabilität. Und wenn Deutschland und seine Industrie ins Taumeln geraten, wird auch Europa erschüttert. Man muss wahrlich kein Putin-Versteher sein, um diese Fragen zu stellen.
Im Amtseid hat Bundeskanzler Scholz geschworen, seine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen und Schaden von ihm abzuwenden. Immer neuen Waffenexporten das Feld zu bereiten und sich am Ende gar an die Spitze der Lieferanten zu stellen, wie es manche Grüne und Freidemokraten fordern, ist das glatte Gegenteil davon. Wir leben in ungewissen Zeiten. Das sollte uns vorsichtig machen.
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