Demokratie kann grausam sein: In einem Fotofinisch taumelte die FDP am späten Sonntagabend auf den letzten Metern mit 5,003 Prozent in die Bürgerschaft – als 1871 der 1884 Wahllokale ausgezählt waren, lagen die Liberalen mit 4,9983 Prozent noch darunter. Und am Montagmorgen waren sie dann wieder draußen – in Langenhorn waren die Stimmen der Grünen irrtümlich der FDP zugeschlagen worden.
Damit steht fest: Der törichte Flirt mit der AfD in Thüringen wurde für die FDP in Hamburg zu einem tödlichen Flirt – trotz aller Abgrenzungen. Es gibt Menschen, die der AfD eine „Zersetzung der Demokratie“ vorwerfen. Mit dem Trick, in Erfurt den eigenen Kandidaten nicht zu wählen, haben diese „Alternativen“ jedenfalls schon die Hamburger FDP zersetzt. Und die CDU gleich mit: 11,2 Prozent sind eine katastrophale Klatsche, die noch viele Analysen erforderlich macht. Dieses Ergebnis wird die Partei in ihren Grundfesten erschüttern. Innerhalb von 16 Jahren hat die CDU sich mehr als geviertelt. Doch die Verlierer sind nicht allein die bürgerlichen Parteien, die in der Bürgerschaft noch über wenige Sitze verfügen. Diese Wahl kennt viele Verlierer. Allen voran ist dieses Wahlrecht eine demokratische Zumutung. Die Idee dahinter ist zweifellos gut gemeint – aber gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Wenn wie am Sonntag fast drei Prozent der Stimmen ungültig sind – und damit drei- oder gar viermal mehr als bei einfachen Bundestagswahlen –, müssen wir über Sinn und Unsinn des Wahlrechts diskutieren. Zehn Stimmen, die panaschiert und kumuliert werden dürfen, sind offenbar des Guten zu viel und überfordern manche Menschen. Da hilft auch keine Werbekampagne. Allein die Heilungsregel zeigt die Defizite: Eine aufwendige Stimmenauszählung, die danach einer noch aufwendigeren Heilung bedarf, ist heillos. Demokratie darf nicht zur Exegese werden. Seltsam wirkt auch, dass die SPD stets der große Profiteur der Heilung ist. Was wäre eigentlich gewesen, wenn die FDP nun durch die Heilung aus der Bürgerschaft gekippt wäre? Vielleicht hätten dann Verfassungsrichter diesem Spuk ein Ende bereitet. Auf jeden Fall haben die neuen Bürgerschaftsabgeordneten schon einmal eine Denksportaufgabe, wie das Wahlrecht geheilt werden kann, das das Ergebnis eines Volksbegehrens von Mehr Demokratie war.
Ein Opfer der komplizierten Hamburger Materie waren wohl auch die Demoskopen. Die haben sich am Sonntag nach allen Regeln ihrer Kunst blamiert – wegen Übereifers. Anders als gewohnt ließen sich sowohl Infratest dimap als auch die Forschungsgruppe Wahlen bei der Prognose auf statistisch waghalsige Nachkommastellen ein. So kam bei der AfD eben nicht – wie bei der FDP – eine wackelige 5 heraus, sondern eine übermotivierte 4,7 beziehungsweise 4,8-Prozent-Ziffer. An diesen Zahlen hielten die Wahlforscher auch in ihren ersten Hochrechnungen fest – übrigens selbst dann noch, als der Hamburger Wahlleiter die AfD schon recht klar im Parlament sah. Bei diesen knappen Ergebnissen kann man den Einlauf eben nicht seriös vorhersagen, also sollte man es lassen. Mit einem Tag Verzögerung lesen sich die ersten Jubelmeldungen vieler Menschen jedenfalls seltsam fade.
Und auch der Sensationsjournalismus ist ein Verlierer der Wahl. Jetzt werden sich die Kollegen von NDR-Panorama und der „Zeit“ weitere kritische Fragen gefallen lassen müssen. Genau zehn Tage vor der Bürgerschaftswahl, das nennt man perfektes Timing, wurde der Skandal um die zweifellos skandalösen Cum-Ex-Geschäfte der Warburg-Bank auf die Politik heruntergebrochen – plötzlich standen der ehemalige Bürgermeister Olaf Scholz und sein damaliger Finanzsenator Peter Tschentscher im Ruch der Mittäterschaft. „Genossen und Banker. Das 47-Millionen-Geschenk“ hieß es bei „Panorama“ und „Das Millionengeschenk“ bei der „Zeit“. Die Beweise waren dürftig und wurden in den vergangenen Tagen eher entkräftet.
Aber irgendwas bleibt eben immer hängen. Nun hat die ARD nachgefragt, auf welche Wähler der vermeintliche Warburg-Skandal einen „sehr großen Einfluss auf ihre Wahlentscheidung hatte“. Und da wird es spannend: Bei den SPD-Wählern ist es verständlicherweise nur ein Prozent; bei der Linken sind es hingegen 18 und bei den AfD-Wählern sogar 24 Prozent. Das nennt man dann wohl einen rechten Rückenwind durch linke Skandalisierung. Übrigens: Hätten nur sieben Prozent der AfD-Wähler anders gewählt, wäre die Partei aus der Bürgerschaft gefallen. Bei einer jeden journalistischen Geschichte steht die Frage „Cui bono – Wem nützt es?“ am Anfang. Die Antwort dürfte die Kollegen nun am Ende überraschen.
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