Berlin. Überall in der Gesellschaft haben große Organisationen an Bedeutung verloren. Profitieren können davon Netzwerke am extremen Rand.

Früher waren Rechtsradikale meist gut zu erkennen: Sie trugen Springerstiefel und Bomberjacken. Sie schoren ihr Haar kurz und liefen mit Trommeln und Fahnen auf Marktplätzen auf. Sie organisierten sich vor allem in Parteien und Kameradschaften. Manche wechselten irgendwann Bomberjacke gegen Nadelstreifenanzug und machten Karriere in Parlamenten. Andere tauchten ab in den Untergrund.

Das hat sich geändert. Rechtsextreme Strukturen sind heute deutlich stärker zersplittert, verwobener und konspirativer. Ideologisch fächert sich die rechte Szene auf, technisch kann sie über verschlüsselte Messengerdienste kommunizieren. Nicht nur lokal, sondern global.

Verfassungsschutz sieht Gefahr durch rechtsradikale Gewalt

Innerhalb der radikal rechten Bewegung wachsen „Identitäre“, die ihren Rassismus geschickt mit Kampagnen im Netz verbreiten. Es formieren sich „Prepper“, die sich auf einen politischen Kampf mit dem Gegner an einem „Tag X“ vorbereiten. „Reichsbürger“ lehnen die Bundesrepublik ab und bilden eigene Bastionen. Neonazis organisieren sich in Kleinstgruppen, manchmal schlagen Einzeltäter zu, ohne dass sie sich zuvor über mehrere Jahre in einer Partei oder Kameradschaft radikalisiert haben.

Der Verfassungsschutz erkennt nun laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ eine wachsende Gefahr durch rechtsradikale Gewalt. Die interne Analyse des Geheimdienstes überrascht nicht – zivile Gruppen und Experten sehen die Bedrohung durch rechtsextreme Täter in Deutschland seit Jahren wachsen. Vor allem mit der offensichtlich gewordenen Krise des europäischen Asylsystems stieg rechtsextreme Gewalt gegen Ausländer und Migranten. Unterkünfte und Flüchtlinge, aber auch jüdische Einrichtungen wurden Ziel von Angriffen.

Mitgliederschwund in Parteien, Kirchen und Gewerkschaften

Überall in der Gesellschaft verlieren große Organisationen an Bedeutung, jedenfalls unmittelbar in der Nachbarschaft. Am besten sieht man das am Mitgliederschwund in Parteien, Kirchen und Gewerkschaften. Zugleich wachsen globale Netzwerke – digital und dezentral.

Das zeigt sich auch an den extremen Rändern. Der im Internet organisierte „globale Dschihad“ hat einer Terrororganisation wie dem „Islamischen Staat“ einen bisher ungekannten Zulauf an Mittätern verschafft. Doch auch mit der militärischen Niederlage verschwindet der IS nicht. Die Gruppe agiert weiter – vor allem in kleinen Zellen vor Ort, aber weltweit über das Internet vernetzt.

Hintergrund: Das sind Symbole und Codes der Rechtsextremen

Mit eben dieser Methode organisieren sich auch extrem rechte Netzwerke. Neonazis gründen Zellen wie „Old School Society“, „Gruppe Freital“ oder „Revolution Chemnitz“. Vernetzt sind sie lokal in Chatgruppen, global aber in einer rassistischen Ideologie, die sie über das Internet teilen. Die Öffentlichkeit ahnt kaum, wie stark sich Extremisten in Foren und Chats gegenseitig anstacheln und ihre Ideologie befeuern.

Der Hass wird wieder analog

Doch der Hass verliert sich nicht in endlosen Forumsdebatten und abseitigen Chaträumen der digitalen Welt. Der Hass wird wieder analog, wenn junge radikalisierte Täter zuschlagen – so wie an diesem Wochenende ein Angreifer auf Menschen in einer Synagoge in den USA schießt. Ziel eines jeden Terroristen ist am Ende meist doch die Tat, die auf bekannte Orte der Öffentlichkeit abzielt: Moscheen, Märkte, Kirchen, Synagogen.

Als im März ein rechtsextremer Attentäter im neuseeländischen Christchurch in eine Moschee zog und Dutzende Muslime tötete, schrieb er Namen von früheren Attentätern auf seine Waffen und Symbole von Neonazis. In einem Forum im Internet kündigte er seine Tat an, übertrug sie auf Facebook live. Ein Verbrechen zeigt wie selten zu vor, wie ein Extremist seine digitale und analoge Welt miteinander vermischt. (Christian Unger)