Meinung
Leitartikel

"Spiegel"-Affäre: Leute wie Claas Relotius werden gezüchtet

| Lesedauer: 5 Minuten
Lars Haider (l.) ist Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Christoph Schwennicke ist Chefredakteur des Magazins "Cicero".

Lars Haider (l.) ist Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Christoph Schwennicke ist Chefredakteur des Magazins "Cicero".

Foto: Laible/Cicero

Im E-Mail-Wechsel von Lars Haider ("Abendblatt") und Christoph Schwennicke („Cicero“) geht es um den Betrug bei dem Magazin.

Hamburg. Christoph Schwennicke, Chefredakteur des in Berlin produzierten Magazins „Cicero“, und Lars Haider, Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, pflegen eine E-Mail-Freundschaft, die wir jeden Sonnabend an dieser Stelle veröffentlichen – und die diesmal angesichts der „Spiegel“-Affäre um den Reporter Claas Relotius, der Geschichten erfunden hat, etwas ausführlicher als üblich ist. Schwennicke hat früher übrigens für den „Spiegel“ im Hauptstadtbüro gearbeitet.

Haider: Lieber Christoph, der Fall von Claas Relotius beim „Spiegel“ macht mich immer noch sprachlos. Wie konnte das passieren?

Schwennicke: Wenn ein Reporter Szenen und Protagonisten erfindet, insbesondere in Auslandsgeschichten, dann ist das schwer zu checken, auch für eine „Spiegel“-Dokumentation. Das sind ja keine Promis, sondern normale Menschen, die da vorkommen. Im Nachhinein sage ich: Die Geschichten von ihm strotzten insgesamt vor zu viel Reporterglück. Das hätte uns alle stutzig machen müssen. Und das sage ich auch als mehrjähriges Mitglied der Jury des Nannen-Preises, für den seine Geschichten immer wieder nominiert waren. Bei „Cicero“ müssen wir auch die eine oder andere Story checken, die er als freier Autor vor seiner „Spiegel“-Zeit bei uns untergebracht hat.

Haider: Auch ich als normaler „Spiegel“-Leser fand einige der Geschichten zu schön, um wahr zu sein. Aber ich habe immer gedacht: Das ist der „Spiegel“, das stimmt.

Schwennicke: Das Problem liegt tiefer. Solche Leute werden gezüchtet. Von einer unseligen Schule, die ich schon seit Jahren nach ihrem hiesigen Urheber Cordt Schnibben „Schnibbismus“ nenne. Im Schnibbismus ist die Erzählung wichtiger als die Wirklichkeit; wenn die Wirklichkeit die Dramaturgie stört, wird sie passend gemacht. Sprache ist alles, Fakten stören im Zweifel den Erzählfluss. Das alles hat Relotius ins Extrem getrieben und am Ende einfach gefälscht. Dann ist die Erzählung scheinbar perfekt. Der „Spiegel“ ist vom Schnibbismus besonders hart betroffen. Das ist kein Wunder. Und es ist kein Zufall, dass Relotius dort dem Gesellschaftsressort angehörte.

Haider: Also ist Relotius kein einzelner, tragischer Fall? Der Fehler läge dann ja im System, auf das der „Spiegel“ so stolz ist: nämlich die Art und Weise, wie dort geschrieben wird. Will sagen: Der Haupttäter ist der Autor, aber der „Spiegel“ hat sich aus deiner Sicht mitschuldig gemacht?

Schwennicke: Er hat diesen unseligen Reporterkult unter der Leitung von Cordt Schnibben betrieben. Den von ihm gegründeten Reporterpreis hat Relotius groteske viermal bekommen. Von Schnibben stammt jüngst auch eine sogenannte „Reporterfabrik“.

Haider: Wie findest du es, dass Ullrich Fichtner, Mitglied der neuen „Spiegel“-Chefredaktion, den Fall genau in dem Stil aufgeklärt und dargestellt hat, der einerseits so typisch für den „Spiegel“ ist, andererseits aber eines der Probleme im Fall Relotius war? Für Kritiker klingt das, als würde man mit der Geschichte über Relotius gleich den nächsten Preis gewinnen wollen. Liest sich ja auch sehr spannend und ist wie immer extrem detailgetreu, von Anfang an, Zitat: „Die elende Seite im Leben des Claas Relotius dokumentiert eine E-Mail, die zufällig ebenfalls an jenem 3. Dezember, keine 17 Stunden vor der Preisverleihung in Berlin, um 3.05 Uhr in deutscher Nacht, bei ihm eintrifft.“

Schwennicke: Ich hätte das nicht so gemacht. Sie machen wieder eine Erzählung daraus. Knochentrocken hätte ich das gemacht. Nicht auch wieder als ausgeschmücktes Epos.

Haider: Wie hast du Claas Relotius erlebt?

Schwennicke: Ich hatte nie persönlich mit ihm zu tun.

Haider: Tut er dir leid? Nach dieser Affäre dürfte er nirgendwo mehr einen Job als Journalist bekommen.

Schwennicke: Er ist als Journalist erledigt.

Haider: Was muss sich ändern, damit sich so ein Fall nicht wiederholt?

Schwennicke: Wir müssen wachsamer sein und die Schreibe nicht über alles stellen.

Haider: Was bedeutet der Fall für die Vergabe von Journalistenpreisen, die ja tatsächlich für viele aus unserer Branche eine große Bedeutung haben? Wir beim Hamburger Abendblatt freuen uns natürlich auch, wenn wir ausgezeichnet werden …

Schwennicke: Bei den Preisen muss mehr Handwerk und weniger Literatur ausgezeichnet werden. Exzellente Recherche, verständlich aufbereitet, das ist es.

Haider: Allerletzte Frage: Wie sehr schadet der Fall dem „Spiegel“? Einige vergleichen die Affäre schon mit den „Hitler-Tagebüchern“ des „Stern“.

Schwennicke: Weiß ich nicht. Sag du es mir als Hamburger Medienexperte.

Haider: Ich sage es mal als bekennender „Spiegel“-Fan: Ich hoffe, dass sich das Magazin und vor allem die Redaktion schnell davon erholen.

Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Meinung