Meinung
Hamburger KritIken

Als Friedrich Merz fast Hamburger Bürgermeister wurde ...

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Matthias Iken

2010 galt er als Kandidat für die Nachfolge von Ole von Beust. Das enthüllt ein altes Buch von Wolfgang Peiner.

An ihrem Umgang mit Büchern erkennt man eine Kulturnation. Und da beschleichen einen Passanten der Gegenwart mitunter kulturpessimistische Gefühle. Wie kommt es, dass ausgerechnet die kapitalismuskritischen Deutschen lieber beim reichsten Mann der Welt, bei Amazon-Gründer Jeff Bezos, im Internet einkaufen, als beim Buchhändler um die Ecke? Oder wie kann man ernsthaft eine Friedrich-Schiller-Gesamtausgabe in einem Karton an die Straße stellen und dem Regen anheimstellen, wie kürzlich in Ottensen gesehen? Ja, wie kann man überhaupt Bücher wegwerfen?

Auch vermeintlich in die Jahre gekommene Bücher sind plötzlich wieder hochaktuell – und brisant. Der frühere Finanzsenator Wolfgang Peiner hat mit dem 2011 erschienenen Buch „Handeln für Hamburg“ nicht nur seine Erfahrungen als Wanderer zwischen den Welten Wirtschaft und Politik beschrieben, sondern gewährt auch spannende Einblicke in die CDU-Spitze. Als Schatzmeister saß er 2001 bis 2006 im Präsidium der Partei und wurde Augenzeuge „spektakulärer Konflikte“ und des zerrütteten Verhältnisses zwischen Friedrich Merz und Angela Merkel: Demnach warf Merz 2002, als Merkel nach dem Fraktionsvorsitz griff, seiner Parteifreundin vor, sie sähe vorrangig ihre Interessen als Person und weniger die Interessen des Landes: Merz „zitierte den berühmten Spruch: Erst das Land, dann die Partei, dann die Person. Das war immer der Maßstab unserer Politik. Er warf ihr wörtlich vor: ,Dir Angela, geht es nur um deine Person.‘“

2005 erfand sich Angela Merkel neu

Liest man heute manches Medium, haben sich diese Zuordnungen komplett gedreht – Angela Merkel gilt als Kanzlerin, die ans Land denkt, und Merz als Herausforderer, der auf Rache sinnt.

Die Welt ist komplizierter.

Durchaus überzeugend ist die These von Peiner, dass das Zerwürfnis zwischen Merkel und Merz der Union bei der Bundestagswahl 2005 geschadet hat. Dort setzte die spätere Kanzlerin bekanntlich auf den Steuerexperten Paul Kirchhof statt auf Merz. Auf den „Professor aus Heidelberg“ schossen sich die Sozialdemokraten ein – und landeten am Ende mit 34,2 Prozent nur einen Punkt hinter der zuvor deutlich favorisierten Union. Nach diesem Wahlergebnis erfand sich Merkel neu – statt auf marktliberale Reformen setzte sie fortan eher auf sozialdemokratische Umverteilung. Ohne Merz erlahmte der Wirtschaftsflügel. 2009 schied der Sauerländer aus der Politik aus.

Frierich Merz, Nachfolger von Ole von Beust?

Fast hätte der Überraschungskandidat für den Parteivorsitz im Jahre 2018 schon 2010 sein Comeback gefeiert – in Hamburg als Bürgermeister. Der amtsmüde Ole von Beust, so schreibt Peiner in seinem Buch, fühlte bei Merz vor. Nach Rücksprache mit seiner Frau entschied sich der Sauerländer gegen das politisch reizvolle Amt, an die Spitze des ersten schwarz-grünen Bündnisses auf Landesebene zu rücken. Ein spannendes Gedankenspiel, was aus der Koalition geworden wäre: Vermutlich hätte sie länger gehalten als die drei Monate, die es Christdemokraten und Grüne unter dem Beust-Nachfolger Christoph Ahlhaus miteinander aushielten. Damit wäre auch die Karriere des heutigen Bundesfinanzministers Olaf Scholz (SPD) anders verlaufen. Für ihn wurde die Bürgerschaftswahl im Februar 2011 zur perfekten Möglichkeit, der Opposition im Bundestag zu entfliehen. Das Wahlergebnis von 48,4 Prozent katapultierte Scholz endgültig in die erste Reihe der Sozialdemokratie – und damit der potenziellen Kanzlerkandidaten.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich jetzt am 7. Dezember wiederum in Hamburg entscheidet, wohin die Reise bei Friedrich Merz geht. Peiner schätzt Merz, wie sein Buch an vielen Stellen zeigt. „Er wäre heute ... die einzige starke inhaltliche Säule, die in der Lage wäre, das Thema soziale Marktwirtschaft in seiner ganzen Breite – Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Steuerpolitik – für die Union zu formulieren und nach außen zu vertreten.“ Peiner prophezeite schon 2011: „Vielleicht kommt er zurück, wenn Merkel nicht mehr Kanzlerin ist.“

Das Buch gibt es antiquarisch für 30 Cent in einem Zustand „wie neu“. Als zusätzliches Argument heißt es da „ungelesen“ – offenbar ein Qualitätskriterium in der Kulturnation Deutschland.

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