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Manche Wörter schlüpfen in verschiedene Rollen

| Lesedauer: 4 Minuten
Peter Schmachthagen
Der Verfasser, 74, ist „Wortschatz“-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprachkolumne erscheint dienstags

Der Verfasser, 74, ist „Wortschatz“-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprachkolumne erscheint dienstags

Foto: Klaus Bodig / HA

Wie auf der Bühne: Die kleinen Wörter „der, die, das“ können ihren Auftritt in der Grammatik mehrfach wechseln

Schauspieler treten in verschiedenen Rollen auf. Das ist ihr Beruf. Je überzeugender sie diese Rollen verkörpern, desto weniger spielen, desto mehr sind sie die Figuren auf der Bühne und Leinwand, die sie darstellen sollen. Ein guter Schauspieler kann sowohl Mörder als auch Ermordeter sein.

Das trifft auf Wörter nicht zu. Sie haben kein darstellerisches Talent. Oder doch? In der Tat gibt es Wörter, die schlüpfen in die unterschiedlichsten Rollen, wechseln die Wortarten wie andere die Kostüme und tummeln sich dabei noch in verschiedenen Regeln der Flexion (Beugung). Das stiftet Verwirrung und bringt Schüler dazu, bei der Grammatik ab- und das Smartphone anzuschalten. Nehmen wir nur die Wörter der, die, das. Sie treten zum einen als Artikel auf, bestimmen das Genus des folgenden Substantivs und werden in der Grundschule deshalb Geschlechtswörter genannt: der Mann, die Frau, das Kind. Das Geschlecht der betreffenden Hauptwörter lässt sich also am Geschlechtswort ablesen. Allerdings wird hierbei ausschließlich das grammatische Geschlecht angezeigt, das durchaus vom natürlichen Geschlecht abweichen kann. Das Mädchen ist grammatisch ein Neutrum, im biologischen Sinne aber eine weibliche Person, der das Femininum vorenthalten wird: Das Mädchen fiel hin. Es (nicht: sie) weinte.

So weit, so gut. Vom (bestimmten) Artikel hat wahrscheinlich jeder schon einmal gehört. Wo soll hier die Schwierigkeit liegen? Moment! Das Gemeine ist nämlich, dass diese drei kleinen Wörter mit je drei Buchstaben nicht nur als Artikel, sondern auch als Demonstrativpronomen auftreten, als hinweisendes Fürwort: Der ist doch völlig durchgeknallt. Denen sollte man die Lizenz entziehen. Die war es. Wir fahren in dessen Auto. Manchmal werden die Rollen auf offener Bühne gewechselt. Ich kann den Lehrer gut leiden (Artikel). Aber: Den Lehrer kann ich gut leiden (Demonstrativpronomen).

Jetzt ist die Angelegenheit schon ein wenig komplizierter geworden, aber immer noch nicht vollständig. Es gibt ein Drittes. Unsere drei Wörter können nämlich auch Relativpronomen sein, bezügliche Fürwörter: ein Bild, das man aufgehängt hat; ein Baum, den man stehen sieht; ein Stürmer, der nicht trifft; das Buch (Artikel), dessen Einband (Pronomen) beschädigt ist. Manchmal schlüpfen sie sogar in zwei Rollen gleichzeitig, sodass wir nicht mehr unterscheiden können, welche Wortart wir vor uns haben. Dann können die Formen zugleich Demonstrativ- wie Relativpronomen sein, sozusagen ein genderähnlicher Twitter. So etwas gibt es auch in der Grammatik: die (diejenige; welche) das getan haben soll, ist nicht anwesend.

Beim Sprechen liefern wir nicht bei jedem Wort die Wortart mit. Aber Vorsicht! Das Gemeine, das uns stolpern, zögern und unsicher werden lässt, liegt in der Flexion verborgen. Die Beugung der Artikel sowie der Demonstrations- und Relativpronomen ist nicht identisch! Bei den Artikeln heißt es im Genitiv des Mannes, der Frau, des Kindes und im Plural der Personen, bei den beiden anderen Wortarten jedoch dessen Mann, deren/derer Frau, dessen Kind und deren/derer Freunde sowie im Dativ Plural zudem denen.

Die Unsicherheit entsteht bei der Frage, wann wir deren und wann wir derer verwenden. Bei Voranstellung heißt es im Genitiv Singular Femininum sowie im Genitiv Plural nur deren: meine Mutter und deren Freundin; die Linken und deren Anschauungen. Bei Vorausweisung steht im Genitiv Plural immer derer: Sie erinnerte sich derer nicht mehr, die sie früher gekannt hatte. Bei Rückweisung sind sowohl deren als auch derer korrekt: die Opfer, deren (oder derer) wir heute gedenken.

Da deren und dessen Genitivformen sind, können sie nicht weiter flektiert werden. Es ist nicht korrekt, aus dem Genitiv eine Unterform im Dativ zu bilden. Die Verballhornungen „derem“, „denem“ oder „dessem“ sind falsch! Der Dativ lautet denen, doch einen Dativ von deren gibt es nicht! Eine solche Form kann die schönste Rede zerstören und peinliches Räuspern im Saal auslösen. Nicht: in Bezug auf die Wirtschaft, in „derem“ Rahmen, sondern: in Bezug auf die Wirtschaft, in deren Rahmen.

deutschstunde@t-online.de

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