Die Zeiten ändern sich im Laufe unseres Lebens, die Zeit im grammatischen Sinne aber nicht – jedenfalls nicht so schnell. Zwar bilden wir die Tempora Verbi, die Zeitformen des Verbs, heute anders als die Goten beim Kampf um Rom, aber nicht anders als Dr. Konrad Duden weiland als Direktor des Königlichen Gymnasiums zu Hersfeld. Solche Zeiten können wir auch unseren Enkeln anbieten.
Zwei Zeitformen haben wir in der vorigen Woche bereits behandelt, das Perfekt (vollendete Gegenwart) und das Präteritum (Vergangenheit, früher: Imperfekt). Dabei ging es weniger um die Bildung der Formen als um ihren Gebrauch und ihre Wirkung. Im Präteritum sind Handlungen und Erzählungen fest in der Vergangenheit eingeschlossen, und ihr einziger Bezug zur Gegenwart ist häufig die Reclam-Schulausgabe. Konsul Buddenbrook ging ins Rathaus – das ist Geschichte, Lübeck, Holstentor, tiefe Vergangenheit. Konsul Buddenbrook ist ins Rathaus gegangen – ob Thomas Mann auch im Perfekt den Literaturnobelpreis bekommen hätte, sei dahingestellt, aber er hätte an dieser Stelle kein Perfekt gebraucht.
Die Form des Augenblicks ist das Präsens, die Gegenwart. Mutter schaut aus dem Fenster und meldet: Es schneit. In diesem Fall ist keine Fehlinterpretation möglich. Die Flocken fallen nass und schwer auf den Boden. Das Weitere ist bei einer Lufttemperatur um die null Grad noch nicht abzusehen. Doch wenn Mutter den Vater mit der Mitteilung „heute Nacht schneite es“ beim Zeitungslesen stört, so war die völlig überflüssig, weil inzwischen alles weggetaut und die Bedeutung für die Gegenwart unerheblich ist. Man erwartet geradezu einen Zusatz wie „sagt der Wetterbericht“ oder „erzählt die Zeitungsfrau“.
Falls Mutter jedoch draußen die weiße Pracht sieht und ausruft: Heute Nacht hat es geschneit, so will sie zweierlei sagen: Der Schneefall ist vorbei, vollendet, aber seine Folgen dauern an. Sie denkt an die Streupflicht der Hausbesitzer und fordert Vater auf, sein Sudoku zur Seite zu legen und zum Schneeschieber zu greifen. Die Perfekt-Form verknüpft hier in ihrer Bedeutung Vergangenheit und Gegenwart, zwar nicht grammatisch, aber stilistisch.
Das Perfekt wird immer mehr zum Tempus der Erzähl- und Umgangssprache, in Süddeutschland sowieso, jedoch auch in den Medien und sogar in der Schule. Kein Lehrer wird es heutzutage wagen, der neunjährigen Emily-Joey im Aufsatz die Form „gestern habe ich Schulaufgaben gemacht“ anzustreichen, will er nicht während des Elternabends von kampf- und klagebereiten Müttern zerrissen werden.
In Konjugationstabellen finden wir auch die Zeitform des Plusquamperfekts, der vollendeten Vergangenheit von lat. plusquamperfectum („mehr als vollendet“). Das ist die Vergangenheit, die schon Vergangenheit war, bevor die Vergangenheit begann. Ihre Formen drücken aus, dass ein Sachverhalt vom Standpunkt des Sprechers aus gesehen vor einem anderen, in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt stattgefunden hat: Ich hatte den Tisch bereits gedeckt, als sie kam. Oder im Passiv: Das Kind war schlimm geschlagen worden, bevor das Jugendamt einschritt.
Allerdings sollten wir bei Perfekt und Plusquamperfekt auf ein fein abgestimmtes Rezept an Hilfsverben und Partizipien achten und nicht zu viel des Schlechten tun: Als er kam, haben wir schon gegessen gehabt. Was soll dieser Purzelbaum mit „gehabt“? Richtig: Als er kam, hatten wir schon gegessen. Oder: Die Vorstellung war gut besucht gewesen, als der Strom ausfiel. Nichts mit „gewesen“! Als es einen Kurzschluss gab, war die Vorstellung gut besucht. Das reicht völlig.
Die Zukunft bilden wir nicht mit dem sinnfreien Horoskop auf der Rätselseite, sondern mit den Flexionsformen der Tempora Futur I (Zukunft) und Futur II (vollendete Zukunft). Falls Sie mir noch einmal eine flapsige Erklärung gestatten: Futur II ist die Zukunft, die bereits Vergangenheit sein wird, sobald die Zukunft beginnt. Etwa: Wenn ich morgen nach Hause kommen werde, wird meine Schwiegermutter schon abgereist sein. Hoffentlich wird sie. Aber wir wollen hier Formen bilden und keinen Ehekrach provozieren.
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