Mit jedem Tag des Zögerns verschlechtert Hamburgs CDU-Fraktionschef seine Position

Es gibt Situationen in der Politik, die brutal sind – und brutal einfach. Solch eine Phase durchlebt in diesen Tagen die Hamburger CDU und vor allem ihr gescheiterter Spitzenkandidat Dietrich Wersich. 15,9 Prozent für die Union bei der Bürgerschaftswahl – das stürzt die nicht gerade krisenarme Hamburger Union in ihre tiefste Krise und stellt ihren Anspruch, eine Volkspartei zu sein, ernsthaft infrage. Darum geht es jetzt. Und das ist, ja, einfach brutal für all diejenigen Christdemokraten, die bis zum Sonntag gehofft hatten, gegen die Übermacht Olaf Scholz mit einem blauen Auge davonzukommen.

Die Hamburger CDU ist eine Partei, die keine Gnade mit den Verlierern kennt. Das musste der frühere Bürgermeister Christoph Ahlhaus erkennen, der 2011 den bis zum Sonntag gültigen Minusrekord mit 21,9 Prozent eingefahren hatte und die Stadt mittlerweile verlassen hat. Das musste Frank Schira auf sehr schmerzhafte Art ebenfalls einsehen. Schira war von sich aus nach dem Wahldebakel 2011 als Partei- und Fraktionschef zurückgetreten. Doch es half nichts: Erst wurde er von der Landesliste zur Bundestagswahl gekippt, das Gleiche widerfuhr ihm bei der Aufstellung der Kandidaten zur Bürgerschaftswahl.

Die Partei wird keine Ruhe geben, bis nicht auch die Verantwortlichen für das aktuelle Desaster ihren Hut genommen haben. Der aktuelle Parteichef Marcus Weinberg hat diese Realität erkannt und die Konsequenz mit seinem Rücktritt gezogen.

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Dietrich Wersich wird diese Erkenntnis nicht erspart bleiben. Mit jedem Tag, den er eine klare Entscheidung hinauszögert, verschlechtert er seine eigene Position. Es entsteht zunehmend der Eindruck, er klammere sich letztlich doch an das Amt des Fraktionsvorsitzenden und die daraus erwachsende Führungsrolle. Und für die Aufgabe des Retters in der Not, eines Notnagels, falls sich kein Nachfolger für den Fraktionsvorsitz findet, sollte sich Wersich zu schade sein. In Wahrheit ist es ja so: Die Hamburger Union hat derzeit keinen zweiten Politiker, der über so breite politische Erfahrung und scharfen analytischen Verstand verfügt. Wersich ist fraglos bürgermeistertauglich. Sein Pech: Er war der Kandidat zur falschen Zeit.

Die CDU steht an Elbe und Alster vor einem Neuanfang, der glaubwürdiger mit neuen Köpfen an der Spitze gelingen kann. Das stimmt schon. Aber nur ein Personalwechsel allein bringt es keinesfalls. Denn wahr ist auch, dass die inhaltliche Neuaufstellung nach dem Wahldebakel 2011 nicht gelungen ist.

Die CDU ist keine wirklich solidarische Partei. Es ist tritt aber seit dem Wahlsonntag immer deutlicher zutage, dass sie auch über ihre Grundausrichtung zerstritten und somit orientierungslos ist. Das Experiment des schwarz-grünen Bündnisses hat die Parteibasis verunsichert und Teile der Stammwählerschaft vergrault. Wersich und Weinberg, die den Kurs der letzten Jahre maßgeblich bestimmt haben, sind in der CDU-Arithmetik Liberale und waren starke Befürworter von Schwarz-Grün. Die Partei wird jetzt unter anderem darüber streiten müssen, wie konservativ sie sein will, um der AfD am rechten Rand Paroli bieten zu können. Noch wichtiger aber wird es sein, die Kernkompetenz im Bereich Wirtschaft zurückzugewinnen. Ein rot-grüner Senat wird der CDU-Opposition in diesem Punkt reichlich Chancen zur Profilierung bieten.

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Nur sollte sich niemand von vermeintlichen Anfangserfolgen blenden lassen: Olaf Scholz liefert den Maßstab, an dem sich jeder künftige CDU-Oppositionschef messen lassen muss.

Die CDU sollte Dietrich Wersich, wenn er sich zum Amtsverzicht entschließt, jetzt eine Brücke zu bauen, indem sie seine Erfahrung und Kompetenz auch weiterhin nutzt. Und wer weiß: Vielleicht ist die Partei in einigen Jahren noch sehr froh, so einen wie ihn in ihren Reihen zu haben.