Schultern wir die Angst und suchen wir nach Nähe. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Manchmal sind es die kleinen, scheinbar beiläufigen Sätze, die nicht nur die größte Wahrheit, sondern auch die entscheidende Hoffnung enthalten. Nach dem Attentat von Paris wurde eine Frau auf der Straße interviewt. Eine zufällige Passantin, eine Französin, der die Erschütterung und die Trauer über das, was in der Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ passiert war, noch überdeutlich ins Gesicht geschrieben standen. Man habe in Paris, dieser riesigen Metropole, doch nur noch nebeneinanderher gelebt, sagte sie dem Reporter sinngemäß in sein Mikrofon und rang dabei um Fassung. „Jetzt fangen wir endlich wieder an, miteinander zu sprechen.“

Je suis Charlie. Wir alle sind Charlie. Es war und ist berührend zu erleben, mit welcher Entschlossenheit, mit welchem Trotz, mit welcher Würde und welchem Zusammenhalt sich nicht nur Franzosen, sondern Menschen auf der ganzen Welt mit den Opfern einer Redaktion solidarisierten, von der die meisten bis dahin vermutlich nie etwas gehört hatten. Die ersten Stunden und Tage nach dem grausamen Mordanschlag schienen zunächst weder von Wut noch von Hass geprägt, sondern von leiser, aber umso nachdrücklicherer geschlossener Trauer. Gemeinsamer Trauer. Geteilter Trauer.

In den sozialen Netzwerken sind seither sowieso alle „Charlie“, Kollegen, Gruppen, Vereine, Parteien ließen sich mit „Je suis Charlie“-Schildern fotografieren, Theater hängten Banner aus, spontan und verblüffend schnell kamen Menschen zu Demonstrationen zusammen, die nicht nur das Entsetzen artikulierten, sondern auch spürbar machten, dem kalten Hass nicht allein gewachsen zu sein.

„Nackte Angst Zieh Dich An Wir Gehen Aus“, heißt das aktuelle Album des Musikers Jens Friebe. Und vielleicht ist das die Chance, die aus einer solch grausamen Tat erwachsen kann: Nicht allein die Freiheit – der Presse, der Kunst, des Einzelnen – zu verteidigen, nicht allein den Intellekt und die Aufklärung zu bemühen. Sondern auch und vor allem die Gemeinschaft. Angst ist etwas Individuelles, Angst macht einsam. Der gesellschaftliche Trend der vergangenen Jahre war es, dieser diffusen persönlichen Angst (vor Kapitalismus, vor Überforderung, Globalisierung, dem gesellschaftlichen Abstieg) entweder durch Ironie oder den Rückzug ins Private zu begegnen. In die Heimeligkeit des Wohnzimmers, in die Kuschelgefühligkeit von Zeitschriften, die sich der Landlust, Heim und Garten, dem Wohlbefinden und der Selbstfindung widmeten. Jetzt könnte die Zeit gekommen sein, in der wir uns nicht mehr bloß selbst finden – sondern den anderen. In der wir unsere Angst schultern und ausgehen und den Nachbarn auf der Straße treffen, im Theater, auf dem Marktplatz. Zum Gespräch. Eine Zeit, in der wir – ganz verrückte Idee – wieder anfangen, einander anzuschauen und einander zuzuhören. Als Menschen. Die sich darüber austauschen, was ihnen wichtig ist – und worin sie unterschiedlicher Meinung sind.

Auch und vielleicht ganz besonders die Kunst, die hier erneut durch verblendete Eiferer angegriffen wurde, kann dabei nachhaltig als Brückenbauer wirken. Nicht allein durch die zahlreichen, in den Netzwerken geteilten Karikaturen – obwohl es schön ist, zu beobachten, wie selbstverständlich viele Menschen sich dabei von dieser Kunst berühren lassen. Sondern auch durch das Angebot (das ja immer bestanden hat, aber nicht immer wahrgenommen wurde), eine Stätte der Begegnung zu sein und zu bleiben. Jeder sollte dieses Angebot annehmen – und jene einladen, die sich nicht als Teil dieser oder überhaupt irgendeiner Gemeinschaft empfinden.

Fangen wir wieder an, miteinander zu sprechen. Halten wir dieses Bedürfnis nach Nähe für die Zukunft fest. Man darf das ruhig kitschig finden – aber erlebte Gemeinschaft hat eine heilende Wirkung. Und was wäre auch die Alternative?

Die Autorin ist Kulturchefin des Hamburger Abendblatts