Warum Thüringen für Freunde wie Gegner von Rot-Rot-Grün eine Chance ist

Wenn 25 Jahre nach dem Fall der Mauer zum ersten Mal ein Politiker der Partei Die Linke Ministerpräsident eines Bundeslandes wird, kann man von einer Zäsur und einem historischen Moment sprechen. Zum Skandal taugt die Wahl Bodo Ramelows aber nur, wenn man die Rolle von SPD und Grünen betrachtet, die nun eben doch den Tabubruch gewagt haben und nicht annähernd wissen können, was sie damit ausgelöst haben.

Auf jeden Fall ist Rot-Rot-Grün von jetzt an nichts Unmögliches mehr, auch wenn Sozialdemokraten und Grüne nicht müde werden, so ein Bündnis für Parlamente außerhalb Thüringens auszuschließen. Man muss ihnen und man wird ihnen nicht mehr glauben. Im Gegenteil: Heimlich, still und leise werden sich nicht wenige Spitzenfunktionäre beider Parteien freuen, dass das bisher Unaussprechliche nun Realität ist, weil damit die Chance besteht zu beweisen, dass Rot-Rot-Grün irgendwie doch funktionieren kann. Sollte das gelingen, hätte die SPD endlich eine weitere Option zu Rot-Grün und damit zu jener Koalition, die oft ja nicht mehr zu einer Regierung reicht – vor allem auf Bundesebene nicht.

Dass die Linke die historische Gelegenheit ergreift, ist aus ihrer Sicht selbstverständlich und – auch wenn es Kritikern schwerfällt, das zuzugeben – verdient. Wer es ein Vierteljahrhundert nach dem Beginn der deutschen Einigung schafft, Wähler in jenem Maße vom eigenen Programm zu überzeugen, wie es die Linke vor allem in den ostdeutschen, aber auch in den westdeutschen Bundesländern tut, den muss man als politische Kraft ernst nehmen. Zumal die Bundesländer, in denen die Partei in der Vergangenheit an der Regierung beteiligt war, nun nicht direkt untergegangen sind. Linke Politiker verhalten sich, wenn sie in Ämter gelangen, nicht viel anders als ihre Kollegen aus anderen Parteien: Sie werden staatsmännisch und staatstragend, agieren stärker pragmatisch als ideologisch.

Wer Bodo Ramelows erste Rede in neuer Funktion am Freitag verfolgt hat, kann erahnen, dass es ihm nicht anders ergehen wird. Wobei der neue Ministerpräsident Thüringens, ein Niedersachse!, sowieso nicht der Prototyp eines Linke-Politikers ist. Der Vergleich hinkt etwas, er ist aber trotzdem erlaubt: Ramelow wird genauso wie der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, zuerst Landesvater und erst dann, vielleicht kaum noch merkbar, Parteipolitiker sein. Ob das den Parteifreunden nun gefällt oder nicht. So ist die neue Rolle in Thüringen für die Linke Chance und Risiko zugleich. Denn nichts kann eine Partei, die in der Opposition mit starken Sprüchen und steilen Thesen auffällt, so schnell entzaubern wie der Moment, in dem sie nicht nur meckern kann, sondern selbst Verantwortung übernehmen muss. Das kann im Extremfall in kürzester Zeit zu einem Bedeutungs- und Glaubwürdigkeitsverlust führen, der existenzielle Ausmaße annimmt. Zuletzt war das bei der FDP nahezu schulbuchmäßig zu beobachten. Insofern taugt die Wahl des Ministerpräsidenten Ramelow auch für die größten Kritiker und Feinde der Linken als gute Nachricht: Was heute noch aussieht wie ein Triumph, kann sich genauso schnell als Niederlage entpuppen.

Wobei man nicht unterschätzen darf, dass die Rolle, die Die Linke im deutschen Parteiensystem spielt, heute keine ist, die sich allein aus der deutsch-deutschen Vergangenheit erklären lässt. Jenseits der geschichtlichen Entwicklung gibt es aktuell offensichtlich in Deutschland einen Platz für eine Gruppierung wie die Linke, übrigens eher als für die FDP. Und dafür sind in erster Linie jene älteren Parteien verantwortlich, die sich aus dem linken Spektrum der Gesellschaft in deren Mitte bewegt haben. Womit wir irgendwie wieder bei Rot-Rot-Grün wären...