Auf St. Pauli haben sich Drogenhändler krakenartig ausgebreitet. Ein legaler Haschisch-Verkauf könnte die Szene verändern

Es lässt sich nicht leugnen: Der offene Drogenhandel in Hamburg hat sich im Verlauf des Sommers nicht nur verlagert, er hat zugenommen. Trotz aller Polizeieinsätze wimmelt es abends von Dealern rund um den Florapark im Schanzenviertel, der bald kein Platz für Kinder mehr ist. Auf St. Pauli haben sich Drogenhändler von der Hafentreppe aus krakenartig ausgebreitet, bevölkern mittlerweile auch Wohn- und Nebenstraßen der Reeperbahn. Bis zu fünf Männer stehen neuerdings an den Ecken und sprechen offensiv Passanten an. In St. Georg forderte eine Anwohnerinitiative Bürgermeister Olaf Scholz in einem Brandbrief zu Maßnahmen auf. Florapark, Hansaplatz, Bernhard-Nocht-Straße – wo das Angebot wächst, steigt auch die Nachfrage: Inzwischen kommen Drogenkunden aus ganz Hamburg schon im Taxi zu den „Hot Spots“, um sich einzudecken.

Das ist nun alles nichts Neues. Ich erinnere mich an ähnliche Verteilungs- und Verdrängungseffekte in den 1990er-Jahren, als der Schanzenpark zur Zentrale des Drogenhandels wurde. Zwar versucht die Polizei jeweils, eine „Verfestigung der Szene“ durch mehr Einsätze zu verhindern. Aber der Effekt hält bloß für ein paar Stunden vor, und die beteiligten Dienststellen sind überlastet. Die langwierige Beschattung von Dealern kostet Kraft. Und das Betäubungsmittelgesetz verlangt die Verfolgung jedes einzelnen kleinen Joints.

Dieses Gesetz führt zu absurden Situationen. Mit einem Großaufgebot etwa rückte die Staatsanwaltschaft vor einem Jahr an der Reeperbahn an, um ein paar Automaten mit Hanfsamen aus dem Laden Mediseed zu räumen. Der Anbau von Hanfpflanzen selbst bei medizinischen Gründen ist nicht erlaubt. Inzwischen kann man eine Ecke weiter das gesamte Angebot von Cannabis bis Crystal Meth erwerben, ohne dass ein Staatsanwalt stört. Da passt doch irgendwas nicht zusammen.

„Allein mit polizeilichen Mitteln“ sei das Problem des Drogenhandels „nicht zu bewältigen“, sagt Polizeisprecherin Ulrike Sweden. Kein Wunder, dass nun wieder eine alte Idee aufkommt: Legaler Haschisch-Verkauf in Coffeeshops – wie in Amsterdam – soll den Drogenkartellen einen Teilmarkt entziehen. Was heute vor allem die Piraten fordern, stand schon vor 20 Jahren in den 90ern zur Debatte, als Hamburg jährlich fast 200 Drogentote beklagte. Bürgermeister Henning Voscherau war damals gegen Coffeeshops mit der Begründung: Wenn Hamburg das allein macht, haben wir hier bald einen Musikdampfer-Effekt.

Diese Begründung gilt heute nicht mehr. Ein Umdenken beginnt: Das Bezirksparlament Berlin-Kreuzberg hat beschlossen, den bundesweit ersten Coffeeshop zu eröffnen, nachdem jahrelange Polizeieinsätze am Görlitzer Park wenig bewirkten. Auch die Frankfurter Grünen setzen sich für Coffeeshops ein. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter fordert, den Konsum von Drogen zu entkriminalisieren, und verweist auf Portugal: Dort ist der Besitz kleiner Mengen Cannabis nur noch eine Ordnungswidrigkeit, wie Falschparken. Am deutlichsten ist die Wende in den USA. In Colorado dürfen Erwachsene nun legal Cannabis bei lizenzierten Händlern kaufen. In Kalifornien, Oregon, Alaska, Arizona und Washington D.C. werden ähnliche Schritte erwogen, nachdem sich Mehrheiten in Petitionen für kontrollierte Cannabis-Shops ausgesprochen haben.

Prohibition, also ein Verbot, gehört immer zum Arsenal des paternalistischen Staats. Der bestimmt für seine Bürger, was gut für sie ist. Aber ist es gut und logisch, dass Spirituosen frei verkauft werden dürfen (an Erwachsene), kleine Mengen Marihuana aber nicht?

Vor einem Jahr fragte die Grünen-Abgeordnete Antje Möller in der Bürgerschaft, ob der Senat „Möglichkeiten zur Entkriminalisierung des Kaufs und des Konsums von Cannabisprodukten in geringen Mengen“ prüfe und ob es dazu „einen Austausch mit anderen Kommunen und Bundesländern“ gebe. Die Antwort: „Der Senat hat sich hiermit nicht befasst.“ Sicher erfordert es einigen politischen Mut, der Gier der Drogenhändler mit neuen Konzepten zu begegnen. Hamburg sollte nicht weitere 20 Jahre abwarten.

Irene Jung schreibt jeden Mittwoch über Aufregendes und Abgründiges im Alltag