Unsere Autorin, die selbst auf St. Pauli lebt, schildert die Beobachtungen der Anwohner. Der Handel habe enorm zugenommen – und die Angst auch

St. Pauli. Im Frühsommer waren da „die zwei“, wie sie von den Nachbarn genannt wurden. Sie seien nur freitags und sonnabends gekommen und hätten sich am Abend an die Ecke Friedrichstraße/Balduinstraße gestellt, um vom Hans-Albers-Platz kommende Passanten in englischer Sprache anzusprechen: „Hello, my friend, you need something?“ Bei passender Antwort habe sich der Kleinere der beiden auf den Weg Richtung Hafentreppe gemacht und – etwa auf der Höhe Erichstraße – einen dritten Mann kontaktiert, der mit der Ware anrückte.

Im August hätten plötzlich noch andere Afrikaner an dieser Ecke gestanden. Und seit Ende September auch schon mittwochs. Inzwischen seien an allen Einmündungen der Balduinstraße von mittwochs bis sonnabends ab 17 oder 18 Uhr Dealer präsent, berichten die Anwohner. Auch dann, wenn gegenüber in der Stadtteilschule am Hafen der Nachmittagsunterricht aufhöre.

Diese Lage ist symptomatisch für viele Bereiche St. Paulis. Auch nördlich der Reeperbahn beschweren sich Anwohner vermehrt über eine deutliche Zunahme des offenen Drogenhandels. Während „die zwei“ nie Anwohner angesprochen hätten, wüssten die wechselnden Dealer nicht, wer im Stadtteil wohne. „Sie baggern jeden an, sogar Passanten, die mit Einkaufstüten nach Hause gehen, also nicht zwingend in Feierlaune sind. Das Alter spielt offenbar keine Rolle“, sagt zum Beispiel eine Anwohnerin.

„Ich hab sie schon ein paar Mal gebeten von der Tür wegzugehen, damit ich ins Haus kann“, sagt ein anderer Nachbar. Von ähnlichen Erfahrungen berichten Ladeninhaber und Anwohner der Balduin- und der Bernhard-Nocht-Straße. Manchmal fragten die Dealer auch „Can I help you?“ Frage man zurück, was sie hier machten, antworteten sie meist, sie gingen hier nur spazieren.

Kollegen der „Hamburger Morgenpost“ hatten Ende August einen Test gemacht. „Auf Nachfrage wird der Preis genannt. Ein Gramm Kokain für 50 Euro. An einem anderen Tag wird Cannabis angeboten. Zehn Euro soll ein Tütchen Gras kosten.“

Inzwischen weiß jeder Anwohner, wie das System läuft. Am Handel sind immer mehrere Personen beteiligt: ein Anbahner, ein Läufer, einer, der den Stoff trägt und einer, der das Geld einnimmt. Deshalb ist es für die Polizei zunehmend schwierig, den einzelnen Beteiligten Handel mit Drogen nachzuweisen. Denn es ist nicht strafbar, an der Ecke zu stehen. Es ist nicht strafbar, Geld bei sich zu haben. Die Ware wird aus Depots in der Nähe geholt.

Am ehesten gelingt der Nachweis daher verdeckten Ermittlern. Am 22. Oktober haben Zivilfahnder der Davidwache an der Bernhard-Nocht-Straße einen Mann aus Gambia vorläufig festgenommen, nachdem sie ihn beim Verkauf von Marihuana beobachtet hatten. Bei dem 42-Jährigen wurde Geld, das vermutlich aus Drogendeals stammte, gefunden, bei der Durchsuchung seiner Wohnung außerdem 590 Gramm Marihuana, diverses Verpackungsmaterial und zwei Feinwaagen.

Viele Anwohner berichten, sie hätten sich schon mehrfach an die Polizei gewandt. „Ich hab die Nummer der Davidwache schon in meinem Handy gespeichert“, sagt ein Anwohner der Friedrichstraße, „unter der Nummer 110 sind die ja oft schon genervt.“ Die Davidwache reagiere schnell, schicke eine Streife und manchmal auch verdeckte Ermittler. Die Dealer sind meist sehr wachsam, beim Anblick von Polizisten türmen sie.

Aber die Wirkung ist höchstens kurzzeitig. „Neulich haben sie einen verwarnt und weggeschickt“, sagt der Zeitungshändler im Kiosk an der Silbersackstraße. „Abends war er wieder da und hat bei uns Zigaretten gekauft.“ Eine Nachbarin im Haus an der Ecke Erich-/Balduinstraße würde manchmal „am liebsten ein paar rohe Eier runterwerfen“, sagt sie. „Wir haben schon mitgekriegt, dass sie sich geprügelt haben.“ Auch im Nachbarschaftsheim an der Silbersackstraße seien die Dealer „ein großes Thema“, sagt Pastor Sieghard Wilm von der St. Pauli Kirche, „die Leute dort haben deutliche Veränderungen bemerkt.“

Im Elternrat der Stadtteilschule am Hafen sei das Problem bisher noch nicht Thema gewesen, sagt Michael Hermann vom Vorstand des Elternrats. „Unsere Kinder werden durch andere Dinge mehr belastet, zum Beispiel durch den ständigen Müll und Dreck um die Schule“. An diesem „unmöglichen Zustand“ ändere sich ja auch nichts. Vor Jahren habe Ronald Schill die Dealer vom Schanzenbahnhof vertrieben, jetzt breiteten sie sich in St. Pauli aus. „Vermehrte Polizeieinsätze führen nur zu einer Verdrängung – womöglich vor andere Schulen“, meint Hermann. Bisher gebe es keine Hinweise, dass Drogen an Schüler verkauft würden.

Der Polizei ist bekannt, dass der Drogenhandel auf St. Pauli enorm zugenommen hat, südlich wie nördlich der Reeperbahn. Die Bereiche Balduinstraße, Hamburger Berg und Seilerstraße würden vermehrt kontrolliert, sagte ein Polizist im Gespräch mit dem Abendblatt, außerdem gebe es immer wieder Schwerpunkteinsätze. Oft reiche es schon, wenn die Polizei nur Präsenz in diesen Straßen zeigt. Aber gerade an den Wochenenden sei die Davidwache überlastet.

Klar ist auch, dass die schwarzafrikanischen Straßendealer nur das letzte Glied in der Handelskette sind – diejenigen, die den dreckigsten Job haben. Das große Geschäft machen die türkischen und kurdischen Drogenkartelle im Hintergrund. Sie nutzen die prekäre Lage vieler afrikanischer Flüchtlinge aus, die ohne geklärten Status und ohne Arbeitsgenehmigung in Hamburg leben. „Not schafft prekäre Arbeitsverhältnisse“, sagt Pastor Sieghard Wilm.

Das ist auch den Anwohnern klar. In den Gesprächen richtet sich bei keinem einzigen ein Groll gegen Afrikaner. Viele haben nach eigenen Angaben für die Lampedusa-Flüchtlinge gespendet, die in der St. Pauli Kirche untergekommen waren und von denen immer noch viele regelmäßig zum Deutschunterricht an den Hein-Köllisch-Platz kommen. Diejenigen, die man „nicht kennt“, werden als „andere“ verortet, die „aus der Schanze hierhergekommen“ seien. „Die vom Hein-Köllisch-Platz sind ja unsere“, sagt eine Nachbarin aus der Erichstraße, „aber die anderen, die sollen hier verschwinden.“

Auch Pastor Wilm ist schon von Dealern angesprochen worden. Sein Antwortsatz: „I pray for your soul“, also „Ich bete für Ihre Seele“. Bei vielen Anwohnern hat sich leise Resignation eingestellt. „Wir haben dieses Hin und Her mit den Dealern schon so oft erlebt“, sagt eine Mutter mit Kinderwagen an der Bernhard-Nocht-Straße. „St. Pauli ist ja tolerant und schreit nicht gleich nach der Staatsgewalt. Aber dass ich hier jetzt an jeder Ecke von unbekannten Dealern umgeben bin, macht mir Angst.“

„Es wird nicht ausbleiben, dass wir das Betäubungsmittelgesetz reformieren müssen“, sagt Andreas Gerhold, Abgeordneter der Piraten im Bezirksparlament Mitte. Das hat vor Kurzem sogar André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, gefordert: „Das Ziel sollte sein, den Konsum in Deutschland zu entkriminalisieren. Wir müssen uns damit beschäftigen, ob die Drogenpolitik gescheitert ist.“ Schulz plädiert dafür, Drogenkonsumenten zu helfen, ohne sie zu kriminalisieren, und verweist auf Portugal, das beispielhaft vorangehe.

Drei Viertel der Verfahren gegen Konsumenten in Deutschland würden ohnehin eingestellt. Die Verfolgung von Konsumenten binde nur Ressourcen, die dringend für andere Bereiche gebraucht würden.

Auch 122 Strafrechtler des „Schildower Kreises“ fordern in einer Resolution an den Bundestag eine Neuorientierung in der Drogenpolitik: „Die strafrechtliche Drogenprohibition ist gescheitert, sozialschädlich und unökonomisch“, schreiben sie. Die Piraten fordern seit Langem ein Ende der Drogen-Prohibition. „Wir setzen uns für eine Regulierung aller Drogen ein“, sagt Andreas Gerhold. „Illegale Märkte muss man austrocknen. Aber bis wir ein reformiertes Betäubungsmittelgesetz haben, kann es nach meiner Einschätzung noch zehn Jahre dauern. So lange können die Leute hier nicht warten. Man muss die Anwohner ernst nehmen.“ Nach seinem Eindruck haben die verstärkten Polizeieinsätze im Florapark auf der Schanze dazu geführt, dass die Dealerei sich auf das Gebiet der gesamten Schanze und nach St. Pauli ausgebreitet hat. „Diesen Effekt hatten wir in Hamburg immer wieder: Bekämpfung und Repression führt zu Abwanderung, aber nicht zum Verschwinden der Drogenszene. Mann muss pragmatisch über Schritte nachdenken.“

Dazu könnte gehören, Drogen-Konsumräume wie das „Stay alive“ zu reaktivieren: „Erfahrungsgemäß konzentriert sich der Handel um solche Räume. Eine zweite Idee wäre, auch auf St. Pauli Coffeeshops zu eröffnen.“ Vorbild sind die Amsterdamer Coffeeshops, in denen weiche Drogen zu festen Preisen und unter Wahrung des Jugendschutzes angeboten werden. In Berlin sieht man das im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ähnlich: Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) plant dort den bundesweit ersten Coffeeshop.

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