Neuer Kommissionspräsident will wirtschaftlichen Aufschwung für EU organisieren

Jean-Claude Juncker und seine Kommission übernehmen in Europa zu einem Zeitpunkt Verantwortung, da es um die Gemeinschaft nicht zum Besten bestellt ist: Die Krisenländer von Portugal und Spanien bis Griechenland sind noch längst nicht in einem sicheren Hafen. Um Italien und Frankreich türmen sich die Probleme – und jetzt stottert auch noch die Konjunktur. In der Ukraine und im Mittleren Osten haben sich vor der Haustür der EU Krisen und Kriege entwickelt, deren Folgen – inklusive der Flüchtlingsproblematik – noch gar nicht abzuschätzen sind. Das geplante Freihandelsabkommen TTIP mit den USA stößt vor allem wegen der intransparenten Verhandlungsweise auf erheblichen öffentlichen Widerstand. Parteien am linken und rechten Rand des politischen Spektrums erstarken bedenklich.

Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber ein derartiger Berg an Problemen bietet natürlich auch die Chance für große Lösungen. Juncker ist der erste Kommissionspräsident, der zumindest de facto direkt von den Bürgern gewählt wurde. Nutzt er dieses Mehr an demokratischer Legitimation und die Befugnisse seines Amtes konsequenter und mit mehr Initiative als sein Vorgänger Barroso – was nicht schwer sein sollte–, kann der Luxemburger einmal als erfolgreicher Kommissionschef in die Annalen der europäischen Geschichte eingehen. Seine ersten Ankündigungen geben zumindest Anlass zur Hoffnung, dass Juncker dem alten Kontinent wieder etwas mehr Schwung verleihen kann. „Volkswirtschaften, in denen nicht investiert wird, können nicht wachsen. Volkswirtschaften, die nicht wachsen, können keine Beschäftigung sicherstellen“, begründet er sein 300-Milliarden-Euro-Wachstumspaket, mit dem er vor allem den Arbeitslosen in den 28 Mitgliedstaaten neue Perspektiven eröffnen will. Kein klassisches Konjunkturprogramm soll es werden, das schnell wieder verpuffe, sondern eine solide Wachstumsquelle, gespeist aus öffentlichen und privaten Mitteln – unter Beibehaltung der bisherigen Haushalts- und Stabilitätskriterien.

Das klingt ein wenig nach der Quadratur des Kreises und weckt bei vielen seiner auf Haushaltsdisziplin und Einsparungen fixierten konservativen Parteifreunde Argwohn. Aber ohne neue Rezepte werden die alten Probleme der Gemeinschaft nicht gelöst werden können. Bis Weihnachten will Juncker Einzelheiten seines Programms liefern. Der erste Prüfstein seiner jungen Amtszeit. Auch in der Arbeitsorganisation der Kommission schwebt ihm Neues vor: mehr Teamarbeit, weniger Ressortdenken. Eine mindestens ebenso ambitionierte Aufgabe, wie die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Denn die Kommissare haben natürlich auch immer die Interessen ihrer Heimatländer im Gepäck – und die unterscheiden sich teils erheblich. So ist nun trotz aller vorherigen Kritik der französische Sozialist Pierre Moscovici Wirtschafts- und Währungskommissar. Als Finanzminister Frankreichs hat er die Defizitregeln der Euro-Zone souverän ignoriert. Der britische Konservative Jonathan Hill soll jetzt die Finanzmärkte kontrollieren. Früher hat er als Bankenlobbyist gearbeitet.

Sarkastisch könnte man sagen, die beiden wissen wenigstens, was man alles falsch machen kann, und Juncker war schon mal durchsetzungsstark genug, auch diese Personalien über die Bühne zu bringen. Im Ernst ist es nun seine Aufgabe, aus der neuen Kommissionstruppe rasch ein handlungsfähiges Team zu formen und dem schwerfälligen Tanker Europa zu etwas mehr Wendigkeit zu verhelfen. Zeit ist seit der Europawahl im Mai dank komplizierter Personalfindung und nationaler Eifersüchteleien schon zur Genüge verflossen.