Nicht mehr wegschauen – die Kirche zieht aus dem Missbrauchsskandal die richtige Lehre

Kinder und Jugendliche, die sexuell missbraucht wurden, sind häufig ihr ganzes Leben lang traumatisiert. Umso höher ist die Courage jener Frauen und Männer zu bewerten, die Jahrzehnte nach den Übergriffen von Pastoren stundenlang einer unabhängigen Kommission Rede und Antwort standen. Ihrem ungebrochenen Mut ist es zu verdanken, dass jetzt der 500 Seite starke, außerordentlich detaillierte Schlussbericht zu einem der größten kirchlichen Skandale in Norddeutschland vorliegt.

Der sogenannte Schlussbericht über die Missbrauchsfälle in der ehemaligen Nordkirche ist keineswegs das Ende einer Debatte. Er markiert wohl eher einen Neubeginn und eine neue Kultur in der evangelischen Kirche. Allein schon die Tatsache, dass der Bericht seit Dienstag ungekürzt und ungeschwärzt mit amtlichem Segen im Internet steht und von jedem nachgelesen werden kann, zeigt: Die Kirchenleitung meint es offenbar ernst mit Transparenz und Offenheit.

Denn noch immer klebt der Makel an ihr, dass leitende Mitarbeiter in den 70er- bis in die 90er-Jahre sexuelle Übergriffe von Pastoren vertuscht oder bagatellisiert haben. Nun kann sich jeder ein eigenes Bild von den perfiden Täterstrategien machen, die symptomatisch nicht nur unter dem Dach der Kirche anzutreffen sind, sondern auch in Sportvereinen und Familien. Damit trägt die Institution Kirche wesentlich dazu bei, dass eine Kultur des Hinschauens im Alltag Gestalt annimmt.

Daran, dass dieser Wandel in einer noch immer von Männern dominierten Institution vollzogen werden konnte, trägt Bischöfin Kirsten Fehrs mit Pröpstin Ulrike Murmann erheblichen Anteil. Es ist dem Geschick und Gespür dieser Frauen und den Expertinnen in der unabhängigen Kommission zu verdanken, dass Missbrauchsopfer wieder Vertrauen in die Kirche fassen konnten. Der „Versöhnungsgottesdienst“ mit Bischöfin und einer Betroffenen aus Ahrensburg im Sommer war ein tief berührendes Zeichen von der Kraft der Versöhnung, die aus dem Glauben an Gott wächst.

Doch neue Transparenz allein genügt nicht. Wer damals als leitender Mitarbeiter gravierende Fehler gemacht hat, muss dienstrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Die Ankündigung eines disziplinarrechtlichen Verfahrens gegen eine ehemalige Oberkirchenrätin ist ein Schritt in die richtige Richtung – und höchst überfällig. Mit Entschlossenheit sollten auch weitere Verfahren geprüft werden. Das ist die Kirche den Opfern schuldig.

In der Zeit der Romantik im 19.Jahrhundert rückte die Würde von Kindern in den Mittelpunkt. Damals wurden die Schlafräume von Erwachsenen und Kindern getrennt; die Kindheit bekam einen eigenen Stellenwert in der Biografie eines Menschen. Dass die Würde von Kindern in modernen Gesellschaften noch immer bedroht ist, zeigen die Missbrauchsfälle in der katholischen und evangelischen Kirche genauso wie ihre Ausbeutung als Arbeitssklaven in Indien und Afrika.

Mit einem Zehnpunkteplan gegen sexualisierte Gewalt setzt die Nordkirche jetzt ein starkes Zeichen für noch mehr Kinder- und Jugendschutz. Allerdings gibt es dabei zwei Probleme. Zum einen werden dringend Experten gesucht, die über exzellente psychosoziale Fachkompetenz verfügen. Ein Vorwurf der Expertenkommission lautete: Der Kirche fehle die Kompetenz bei der Krisenintervention. Zum anderen könnten die geplanten Maßnahmen dazu führen, dass Kinder- und Jugendarbeit für viele Mitarbeiter wirklich zur Last wird, weil es weitere Vorschriften gibt.

Die Kultur des Hinschauens braucht deshalb in jedem Fall Augenmaß. Die Arbeit mit der jungen Generation muss Freude machen und darf nicht zur Qual werden, nur weil einige wenige Pastoren schuldig geworden sind.