Der Sturmlauf der Terrormiliz IS in Vorderasien wird auch die pazifistische Grundstimmung in Deutschland nicht unverändert lassen

Mit Beklemmung blicken die Deutschen auf die Konfliktherde in der Ukraine und im Nahen Osten. Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert erfasst uns plötzlich wieder Angst vor einem Krieg in Europa. Doch während die ukrainische Krise derzeit etwas an Brisanz zu verlieren scheint, spitzt sich die Lage in Syrien und im Irak dramatisch zu. Auch dieser Konflikt entwickelt sich ungemütlich dicht am Nato-Artikel 5 entlang, der den Bündnisfall auslöst.

Mit dem Islamischen Staat (IS) ist ein Gegner unseres Zivilisationsmodells aufgetaucht, der sich noch weniger als der Rivale al-Qaida um unschuldige Menschenleben schert, und um Menschenrechte schon gar nicht. Das Niedermetzeln von Geiseln wurde zur Methode erhoben. Bereits bei der Eroberung von 300 Dörfern in der Umgebung der syrischen Stadt Kobane schnitten IS-Milizionäre gefangenen kurdischen Frauen die Köpfe ab. Hilflos sieht der Westen zu. Die Frage ist, wie dieser immer dichter heranrückende Konflikt mit einer Terrortaktik, die an das Vorgehen mongolischer oder assyrischer Heere erinnert, uns Deutsche verändern wird. Russlands Präsident mag ein Autokrat und skrupelloser Machtmensch sein, aber er bewegt sich vergleichsweise in einem Rahmen zivilisatorischer Normen und ist Argumenten zugänglich. Der IS nicht. Mit Verhandlungen wird diese dschihadistische Bewegung, die gegen alle Werte steht, die sich die westliche Kultur seit der Aufklärung erarbeitet hat, nicht aufzuhalten sein. Doch militärische Gewalt als Instrument gehörte aus gutem Grund seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zum Inventar deutscher Außenpolitik; selbst die Entsendung der Bundeswehr in den afghanischen Krieg als reine Bündnisleistung zugunsten der USA geschah politisch verquast, mit unzureichender Bewaffnung und unter zivil klingenden Tarnetiketten.

Spätestens nach dem Ende des Kalten Krieges mit seiner apokalyptischen Bedrohung haben sich die Deutschen in einer pazifistischen Grundstimmung eingerichtet. Man ist zwar bestens informiert über die Konflikte der Welt, will aber selber nichts damit zu tun haben. In Goethes „Faust“ ist es beschrieben: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen ... Sie mögen sich die Köpfe spalten, mag alles durcheinander gehn; doch nur zu Hause bleib’s beim alten.“ Doch 200 Jahre nach dem „Faust“ ist die Türkei, unser schwieriger Verbündeter, nicht länger „hinten, weit“, und es kann zu Hause leider nicht „beim alten“ bleiben. Der englische Schriftsteller George Orwell („1984“, „Farm der Tiere“) hat den Pazifismus 1942 einen Luxus genannt, den sich nur Leute leisten könnten, deren Sicherheit garantiert sei – entweder durch ausreichend Militär oder durch ausreichend große Entfernung vom Kriegsschauplatz. Doch der rückt näher – und deutsche Islamisten könnten bald mit Kampferfahrung zurückkehren, um hier Anschläge zu begehen. Wir sind nicht nur militärisch, sondern auch psychologisch völlig unvorbereitet auf diese von keinem Experten vorhergesehene Herausforderung. Die desolate Lage in der Region mit dem gescheiterten Arabischen Frühling, der Despotie, Korruption, Intoleranz, Menschenrechtsverletzungen und Perspektivlosigkeit vor allem junger Menschen in der Region nicht beenden konnte, lässt die Reihen des IS und somit den militanten Islamismus zu einem akuten internationalen Problem anschwellen.

Mit Verwirrung erkennen die Deutschen, dass dies ein Konflikt mit einem Feind ist, dem nicht wie gewohnt durch Diplomatie beizukommen ist. Bislang wollen die Deutschen in der breiten Koalition Dutzender Staaten gegen den IS nicht mitkämpfen. Doch wenn dessen Aggression anhält, werden wir gezwungen sein, Position zu beziehen. Es ist ein politischer „Schmetterlingseffekt“: Handlungen und Entscheidungen einzelner Akteure Tausende Kilometer entfernt in Vorderasien lassen einen Sturm entstehen, der am Ende wohl auch Deutschland verändern wird.