Bei der Postensuche muss man in Brüssel alles mal 28 nehmen – und das ist auch gut so

Für Kaiser Wilhelm II. war der Reichstag, das deutsche Parlament also, das von 1894 an in jenem Berliner Gebäude tagte, das heute den Deutschen Bundestag beherbergt, eine „Quasselbude“ und das „Reichsaffenhaus“. Das zähe Ringen um Kompromisse zwischen verschiedenen Parteien und Personen, die einerseits den Wählerwillen und andererseits auch eigene Interessen umsetzen wollen, ist nicht die Sache von autoritären Herrschern. Es gibt derzeit auch bei uns Menschen, denen das unduldsame Basta-Regime eines Wladimir Putin wesentlich mehr imponiert als die komplexen, mühsamen und nicht immer durchsichtigen Entscheidungsprozesse in den Brüsseler EU-Führungsinstitutionen. Doch das ist eine geistige Fehlstellung, die in gefährlicher Weise die enormen Errungenschaften des europäischen Einigungs- und Aussöhnungswerks ignoriert.

Schon ergießt sich wieder Kritik über Brüssel, weil der Sondergipfel zu Personalentscheidungen nicht imstande war, eben diese Entscheidungen zu fällen. Ist das eine Katastrophe? Nein. Natürlich wäre es wünschenswert, rasch Einigungen über wichtige Posten zu erzielen, damit die betreffenden Gremien und Personen ihre Arbeit tun können. Das Fingerhakeln in den Kulissen zwischen den 28 Mitgliedstaaten erweckt überdies nicht eben den Eindruck einer wohlgeölten Effizienz. Doch die EU ist – und zwar Gott sei Dank – weder ein autoritär geführtes System noch ein monolithischer Block. Es ist ein auf der Welt einzigartiges Experiment, bei dem 28 zum Teil sehr unterschiedliche politische Kulturen kooperieren.

Dass dabei Ansprüche aufgrund von nationalen Interessen erhoben werden, ist ein natürlicher und durchaus gewollter Teil des Systems. Europas Vielfalt soll sich laut Lissaboner Vertrag ausdrücklich in der Wahl der EU-Führungsposten widerspiegeln. Bei jedem Tarifvertrag zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ist das altbekannte Spiel aus Forderung, Gegenforderung, Verhandlung und Kompromiss akzeptiert. Und wir kennen das Prinzip Proporz bezüglich Geschlecht, Partei und Region auch von Koalitionsverhandlungen. In der EU ist eben alles mal 28 zu multiplizieren. Es ist nachvollziehbar, dass weder große noch kleine Staaten zu kurz kommen wollen, der Süden des Kontinents ebenso wenig wie der Norden oder der Osten. Und Parteien neigen, zumal wenn sie sich an der Urne gut geschlagen haben, selten zur Bescheidenheit. Es ist im Übrigen bemerkenswert, dass Deutschland, das doch in der Sicht von Kritikern die EU angeblich übermächtig dominiert, keinen einzigen der jetzt heftig umkämpften Spitzenjobs beanspruchen wird.

Das Gezerre um Posten zeigt aber auch, wie attraktiv die EU geworden ist, dass die Zeiten von „hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“, als die EU noch als personalpolitische Resterampe galt, längst vorbei sind. Das Amt eines EU-Außenbeauftragten etwa ist nicht zuletzt mit Blick auf die Krisenherde der Welt immer wichtiger geworden; zumal die „Soft Power“ des Wirtschaftsgiganten EU nicht ohne Einfluss ist. Amtsinhaberin Catherine Ashton hat, um es höflich auszudrücken, die Möglichkeiten dieses Amtes nicht zur Gänze genutzt. Dass bei der Suche nach Nachfolgekandidaten auch Macht- und Prestigesucht von Individuen und Regierungen eine Rolle spielen, kann kaum überraschen; bedenklich ist allerdings die gewachsene Fixierung auf Parteipolitik.

Wer die Geduld mit Europa zu verlieren droht, möge sich einfach vorstellen, er müsse in einer Familie aus 28 Personen eine Einigung über einen Urlaubsort erzielen. Das geht auch nicht ruckzuck.