Hamburger Ausstellung verbindet die Katastrophe 1914–1918 mit unserem Leben

Nicht nur für viele Jugendliche scheint der Erste Weltkrieg so fern zu sein wie die Religionskriege des 17. Jahrhunderts. Anders als in England, Frankreich oder Russland, wo die Erinnerung an den verhängnisvollen militärischen Konflikt, der vor 100 Jahren begann und bereits den Keim der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges ins sich trug, noch immer stark im kollektiven Gedächtnis verwurzelt ist, wirkt er den Deutschen merkwürdig entrückt.

Umso erstaunlicher war die große Resonanz auf einen Abendblatt-Artikel im März dieses Jahres, in dem wir darum baten, familiäre Erinnerungsstücke an den Ersten Weltkrieg dem Museum für Kunst und Gewerbe für dessen Ausstellung „Krieg und Propaganda 14/18“ zur Verfügung zu stellen. An einem einzigen Wochenende brachten fast 250 Menschen etwa 1000 Briefe, Tagebücher, Bilder, Fotos, Spielzeuge, Orden und andere Objekte ins Museum. Mit jedem dieser Dinge verbindet sich eine Erinnerung, ein Erlebnis, ein Schicksal, das als kleiner Mosaikstein Teil einer großen Geschichte ist. Für viele Hamburger, die den Artikel gelesen haben, war der Aufruf erst der Anstoß, sich mit dem Schicksal des eigenen Großvaters oder Urgroßvaters auseinanderzusetzen.

Dabei gab es mehr Fragen als Antworten. Was hat der längst gestorbene Angehörige für den Orden, der über viele Jahrzehnte hinweg vergessen in einer Schachtel lag, geleistet? Wie hat der junge Soldat, der auf einem privaten Foto lächelt, das 1915 in einem zerstörten belgischen Dorf aufgenommen wurde, den Alltag des Krieges erlebt? Hat er an die Propaganda geglaubt, mit der der Gegner als Feind dämonisiert wurde? Und sahen die britischen und französischen Soldaten in ihm den blutrünstigen Hunnen, wie sie es von ihren Propagandaplakaten kannten?

Vieles bleibt für immer unbeantwortet, denn die Zeitzeugengeneration des Ersten Weltkrieges lebt nicht mehr. Dennoch sprechen diese Erinnerungsstücke eine eigene Sprache: Durchhalteparolen, Heldenbilder und Propagandaklischees finden sich hier ebenso wie Gedanken und Betrachtungen, die Distanz und Ernüchterung zum Ausdruck bringen. In einem ganzen Raum der Ausstellung, die vom heutigen Freitag an zu sehen ist, zeugen sie davon, dass Geschichte nicht nur mit großen Strategien und Ereignissen zu tun hat, sondern mit ganz individuellen Schicksalen. Mit Hoffnungen und Ängsten, mit Schuld und Leiden, mit Großmut und Tapferkeit. Und auch mit manchen Dingen, die ausgesprochen und überliefert, und vielen anderen, die aus Scham verschwiegen wurden.

Sie zeigen aber auch, dass der Krieg, den der amerikanische Historiker George F. Kennan als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat, kein fernes historisches Geschehen wie der Dreißigjährige Krieg ist, sondern mit uns und unserer eigenen Familiengeschichte zu tun hat. Die Erinnerungsstücke, die jetzt im Museum zu sehen sind und zu denen die heutigen Besitzer in Video-Interviews Auskunft geben, bilden eine Brücke, die bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückreicht.

Und das Interesse an diesen Familienstücken spricht dafür, dass uns unsere Geschichte vielleicht doch näher liegt, als es manche Kritiker behaupten. Wenn in den nächsten Monaten auf vielfältige Weise an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnert wird als ein Ereignis, für das es heute keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt, sollte das Anlass sein, jene Menschen in unserer Familie und Umgebung zu fragen, die die anderen historischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts erlebt und erlitten haben – von 1945 bis 1989. Manchmal fällt die Erinnerung nicht leicht, aber der Mühe ist es wert. Wie wertvoll das Zeugnis von Zeitzeugen ist, spürt man oft leider erst dann, wenn sie keine Auskunft mehr geben können.